Bosnien
Versagen, Wegschauen und neue Weltbilder
In diesem Sommer jährte sich das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs zum 25. Mal: der Genozid an über 8000 Bosniaken in Srebrenica im Juli 1995 durch bosnisch-serbische Soldaten.
„Bosnien“ war schon zuvor, wie die Historikerin Marie-Janine Calic schreibt, zur „Chiffre einer extremen Brutalisierung des Krieges“ geworden. Die mit dem Unwort der „ethnischen Säuberung“ verbundenen Verbrechen, die von Massenhinrichtungen und Vergewaltigungen bis zu Folter und Verstümmelungen reichten, erlangten eine schier unvorstellbare Dimension. Am bitteren Ende waren rund 100.000 Tote, unzählige Verletzte und über zwei Millionen Vertriebene zu beklagen.
Sicher, das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag hat die Haupttäter verurteilt und die Verbrechen dokumentiert. Und in den Gedenkreden anlässlich der Massaker vor 25 Jahren in Srebrenica wurde erneut die weitere strafrechtliche Aufarbeitung sowie die Erinnerung an die Verbrechen angemahnt und beschworen. Doch von Versöhnung sind die ex-jugoslawischen Völker weit entfernt. Bis heute hinterlassen die fast ein Jahrzehnt währenden Jugoslawienkriege viele offene Fragen und vor allem ein beschämendes Bild internationaler Handlungsunfähigkeit und Unwilligkeit.
Der Schriftsteller, Autor und Publizist Peter Schneider hat sich in den 90er Jahren intensiv mit den Kriegen auf dem Balkan befasst und frühzeitig Position bezogen: nicht für eine bestimmte Volksgruppe, sondern für die Zivilbevölkerung, die auf bosnisch-muslimischer Seite am meisten bedroht war: Knapp 70 Prozent der zivilen Todesopfer des Bosnienkriegs waren laut Angaben des Jugoslawien-Tribunals der Vereinten Nationen Bosniaken.
In seinem jüngst erschienenen Essayband „Denken mit dem eigenen Kopf“ (2020), der Texte aus drei Jahrzehnten versammelt (1989-2020), die jeweils mit aktuellen Kommentaren versehen sind, kommt dem Kapitel „Krieg in Europa“ eine besondere Bedeutung zu. Gleich im ersten Beitrag (Mai 1993) unter der Überschrift „Die serbische Barbarei und die unsere“ verurteilt der Autor die allenthalben anzutreffende bequeme Haltung eines „händeringende(n) Zuschauen(s) beim Völkermord“, und es komme einer „moralischen Perversion“ gleich, wenn jene, die sich angesichts der offensichtlichen Barbarei für eine militärische Intervention zum Schutz der Zivilbevölkerung einsetzten, als „Bellizisten“ und „Militaristen“ hingestellt würden.
In dem folgenden Interview schildert der Autor wie sich seine Gedankenwelt verändert hat aufgrund ganz persönlicher Erfahrungen als Beobachter vor Ort im belagerten Kessel Sarajevo. Ergänzende Auszüge aus bisher unveröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen vermitteln ein plastisches Bild der damaligen Geschehnisse.