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Das gesellschaftspolitische Klima auf dem Balkan
Während Russlands Propaganda in westlichen Ländern auf überwältigende Ablehnung der Menschen trifft und nur von einer Minderheit akzeptiert wird, ist die Situation auf der Balkanhalbinsel völlig anders. Das gesellschaftspolitische Klima begünstigt geradezu die Verbreitung von Kreml-Propaganda. Die politischen Eliten wie zum Beispiel im größten und wichtigsten Balkanland Serbien oder in der serbischen Landeshälfte von Bosnien-Herzegowina sowie in den serbischen Bevölkerungsteilen Montenegros pflegen traditionell eine enge Verbundenheit zu Russland. Das beginnt mit der „Waffenbrüderschaft“ im Ersten und Zweiten Weltkrieg und reicht bis in die jüngste Zeit, weil „Russland sich selbst und die Balkanländer vor dem Islamischen Staat verteidigt hat“. Zur Stärkung der gegenseitigen Bande haben auch der Verkauf der Erdölindustrie Serbiens und der serbischen Landeshälfte Bosnien-Herzegowinas an Russland zu einem Spottpreis beigetragen. Auch größere Waffenkäufe vom Moskauer Verbündeten hatten diese Funktion.
Das vom Kreml gesteuerte politische System Russlands und die Ausnahmestellung seines Präsidenten kommen den politischen Idealen fast aller serbischer Spitzenpolitiker nahe. Analog blicken große Teile der serbischen Bevölkerung voller Bewunderung auf den „großen Bruder“ Russland. „Wir und die Russen sind 150 Millionen Menschen“, lautet ein beliebtes Bonmot im serbischen Volk mit 6,6 Millionen Bürgern. Diese emotionale Verbundenheit beruht auf der gemeinsamen slawischen Sprache und der christlich-orthodoxen Religion.
Die politische Führung Serbiens ist sich mit ihrer Bevölkerung einig, dass Russland zum Beispiel im UN-Sicherheitsrat und als Gegengewicht zur NATO verhindert hat, dass offene Balkanprobleme wie das Kosovo oder die Zukunft der serbischen Minderheiten in Montenegro und Bosnien-Herzegowina von den USA und der EU gegen den Willen und die Interessen Belgrads gelöst wurden. Moskau und Belgrad sehen sich international in einer Opferrolle. Russland versucht, seinen Angriff auf die Ukraine damit zu rechtfertigen, dass die NATO unter Führung der USA angeblich die Existenz des größten Landes der Welt bedrohe. In dieser Sicht wird Moskau zum Opfer und nicht zum Täter. In Serbien behaupten die Medien beinahe unisono, „Serbien wurde zum größten Opfer dieses Krieges“. Die Großmächte führten „ihren Krieg auf unserem Rücken“. Kritische serbische Historiker charakterisieren diese Erzählung als „self-victimization“. Beide Länder pflegen ein politisches Selbstbildnis, das von der Feindseligkeit der übergroßen Mehrheit der internationalen Akteure ausgeht, dem – gemeinsam mit den wenigen Freunden in der Welt – mit einer Wagenburgmentalität begegnet werden muss.
Da die politische Elite – allen voran Serbiens alles beherrschender Staatspräsident Aleksandar Vučić – die Medienlandschaft beinahe komplett kontrolliert, sind mediale Angebote aus Russland wegen der ideologischen Nähe zu eigenen Positionen hoch willkommen. Weil gedruckte und elektronische Medien in Serbien wie auch in anderen Ländern dieser Region, chronisch an Unterfinanzierung leiden, gewinnt das kostenlose Informationsangebot aus Russland noch mehr Gewicht. Umso mehr, da es auch noch in Landessprache präsentiert wird. Die breite Übernahme eins zu eins ist somit ohne weitere redaktionelle Bearbeitung die Regel. Eine solche unbearbeitete Übernahme gilt auch für die serbischsprachigen Texte von Deutsche Welle oder Radio Free Europe. Allerdings handelt es sich dabei um journalistische Produkte, die sich an Standards westlicher Medien orientieren.
Russland verwendet viel Mühe und Geld darauf, um die angeblich durch die Geschichte bestätigte brüderliche Freundschaft mit den Serben immer wieder neu unter Beweis zu stellen. So finanzierte Moskau etwa große Statuen wie zum Beispiel für den Zaren Nikolaus II. vor dem serbischen Staatspräsidium (2014) und den serbischen Nationalheiligen Hl. Sava (2003). Besonderes Augenmerk richtete Putin auf die Fertigstellung der orthodoxen Kathedrale „Heiliger Sava“ in Belgrad, immerhin eine der größten Kirchen ihrer Art weltweit. Vor allem für den Innenausbau der Riesenkirche mit Goldmosaiken und Fresken in der Größe mehrerer Fußballfelder sorgten unter Federführung von Putin russische Künstler. Neueste Investition Russlands ist das monumentale Denkmal für den mittelalterlichen serbischen Herrscher Stefan Nemanja im Zentrum Belgrads vor dem historischen Bahnhof. Die Auftragsvergabe an einen russischen Künstler und die Finanzierung auch durch Moskauer Quellen ist bis heute wenig transparent. Alle diese „architektonischen Investitionen“ Russlands zielen auf die Herzen der Serben. Denn es handelt sich um in Serbien emotional sehr aufgeladene Themen, die starke Empathien gegenüber Russland freisetzen.
Die Medienübermacht aus Russland in großen Teilen des Balkans sorgt bei dieser machtpolitischen, emotionalen und nationalpsychologischen Ausgangslage dafür, dass die EU und die USA oft auf verlorenem Posten agieren. Dabei ist besonders die EU der mit Abstand wichtigste Partner des größten Landes des westlichen Balkans. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat Serbien von Brüssel weit über drei Milliarden Euro nicht rückzahlbarer Hilfen erhalten. 67 Prozent aller ausländischen Investitionen stammen aus Westeuropa. Das Balkanland gehört zu den drei Ländern weltweit mit den größten Überweisungen aus Brüssel und bekommt pro Jahr rund 300 Millionen Euro, die als Donation nicht zurückgezahlt werden müssen. Im Jahr 2021 sah die Handelsbilanz Serbiens so aus:
Während der Außenhandel mit den EU-Staaten rund 30 Milliarden Euro ausmachte, betrug der mit Russland weniger als zehn Prozent dieser Summe und auch China erreichte nur rund 4,5 Milliarden Euro. Als Handelspartner ist Deutschland der unbestrittene Spitzenreiter für die gesamte Balkanregion. Rund 14 Prozent des gesamten Außenhandels aller sechs Balkanländer wird mit Deutschland abgewickelt. Auch bei den ausländischen Direktinvestitionen (2010-2021) steht die EU mit knapp 64 Prozent aller Einlagen einsam an der Spitze. Russland erreicht nur knapp 7,5 und China sogar nur 1,7 Prozent (sogar die Schweiz hat mehr Geld investiert). Damit haben die EU-Mitgliedsländer weit mehr als 120.000 Arbeitsplätze neu geschaffen, 40.000 davon allein durch deutsche Unternehmen.
Die Wahrnehmung der Bürger in der Region ist dagegen eine ganz andere. Bei allen Meinungsumfragen geben sie an, Russland und China hätten in den letzten zehn Jahren die meisten Donationen überwiesen. China wird mit der EU gleichauf als größter Investor gesehen, obwohl die chinesischen Geldflüsse meistens staatliche Kredite sind, oft sogar im internationalen Vergleich teuer und ungünstig für das Empfängerland. Obwohl Serbien seit über zehn Jahren mit der EU über seinen Beitritt verhandelt, wollen bei einem möglichen Referendum 51 Prozent der Bürger gegen eine EU-Mitgliedschaft stimmen. Nur 34 Prozent wären dafür. Welcher Nation sehen sich die Serben am nächsten? 40 Prozent der Befragten nennen die Russen, weit abgeschlagen folgen die Griechen mit 9 Prozent. Als bester Spitzenpolitiker weltweit gilt für 45 Prozent der Menschen Putin. Es folgen der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping mit 12, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit 11 und Bundeskanzler Olaf Scholz mit 5 Prozent. Folgerichtig empfinden zwei Drittel aller Befragten, dass die USA eine Bedrohung für Frieden und Sicherheit in Europa darstellen. Nur jeweils 21 Prozent sahen in Russland und China eine Gefahr dafür. Daraus folgt, dass 34 Prozent Russland, 17 Prozent China und nur 14 Prozent die EU als wichtigsten außenpolitischen Partner ansehen.
Dass dieses Meinungsbild auch in den nächsten Jahren zu erwarten ist, zeigt die neueste Umfrage unter jungen Menschen (15 bis 30 Jahre) in Serbien. Nur 18 Prozent der befragten jungen Leute sehen die EU positiv, doppelt so viele negativ. Wenn sich Serbien für eine der beiden Seiten entscheiden müsste, würden 57 Prozent den „Osten“ und 43 Prozent den „Westen“ wählen. Für 55 Prozent der Jungen sollte Russland wegen seines Angriffskriegs gegen die Ukraine nicht verurteilt werden, weshalb sich Sanktionen verböten, wie sie von der EU verlangt werden. Schließlich wird ein politisches Modell mit einem „starken Führer“ von 57 Prozent der jungen Befragten für gut befunden und nur 28 Prozent sind dagegen.