Frauenrechte
Abtreibungsrecht: Polen streikt
Am 22. Oktober erklärte das polnische Verfassungstribunal jegliche Schwangerschaftsabbrüche aufgrund schwerer Fehlbildungen des Fötus für verfassungswidrig. Die Entscheidung bedeutet ein fast vollständiges Verbot für legale Abtreibungen in Polen. Die Präsidentin des Tribunals, Julia Przyłębska, sagte, dass das Zulassen von Abtreibungen bei fetalen Anomalien "eugenische Praktiken“ legalisiere. "Das Tribunal vertritt die Position, dass menschliches Leben in jeder Entwicklungsphase von Wert ist und geschützt werden sollte", fügte der Berichterstatter des Gerichts, Justyn Piskorski, hinzu. Gegen das Urteil kann kein Rechtsbehelf eingelegt werden.
Das Urteil ändert den sogenannten „Abtreibungskompromiss“ von 1993, der den Schwangerschaftsabbruch nur im Falle von Vergewaltigung, Inzest, Missbildungen oder unheilbarer Krankheit des Fötus oder einer ernsthaften Gesundheitsbedrohung der Mutter erlaubte. Dieses Abtreibungsgesetz, das bereits zu den strengsten in der Europäischen Union gehört, war ein „Kompromiss“ zwischen der Regierung und der Kirche.
Das bloße Wort "Kompromiss" wurde kürzlich jedoch von Linken, Progressiven und manchen Frauenrechtsgruppen in Frage gestellt. Nicht nur, weil sie glauben, dass der Staat mit den Bischöfen keine Kompromisse eingehen sollte, sondern auch, weil selbst dieses sehr konservative Gesetz nicht ordnungsgemäß umgesetzt wird. Es ist nicht unüblich, dass Ärzte die Schwangerschaftsabbrüche ablehnen, weil es ihrem Glauben widerspricht, oder dass Krankenhäuser die Frauen, die legale Abtreibungen anstreben, abweisen. Es gibt ganze Regionen mit keinem einzigen Krankenhaus, das Abtreibungen anbietet, und Frauen werden dadurch ihrer Rechte beraubt und zur Geburt gezwungen.
Trotz dieser harten Umstände drängen die regierende konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und die katholische Kirche seit Jahren darauf, das Recht auf Abtreibung für polnische Frauen noch weiter einzuschränken. Im Jahre 2016 unterstützte eine Gruppe von PiS-Abgeordneten einen Gesetzentwurf zum vollständigen Abtreibungsverbot. Dem Änderungsantrag zufolge hätten Frauen, bei denen Abtreibungen festgestellt wurden, sowie Ärzte, die bei der Abtreibung geholfen haben, mit Haftstrafen bestraft werden können. Als Reaktion auf den Vorschlag marschierten Tausende Frauen durch die Straßen polnischer Städte, gekleidet in Schwarz als Zeichen der Trauer um ihre reproduktiven Rechte. Viele von ihnen waren PiS-Wählerinnen, die ebenfalls wütend über den Vorschlag waren. Die Regierung geriet in Panik und lehnte die Initiative schließlich ab.
Im Jahre 2018 forderte die Kirche jedoch erneut eine Einschränkung des Abtreibungsgesetzes. Diesmal überarbeitete die Regierung den Gesetzesvorschlag, um ihn „weniger radikal“ zu machen. Abtreibungen sollten nicht mehr mit strafrechtlichen Sanktionen bestraft werden. Frauen gingen jedoch erneut auf die Straße. Das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte und viele andere internationale Organisationen verurteilten das vorgeschlagene Gesetz ebenfalls. Unter dem Druck nahm es PiS wieder zurück.
Um das Abtreibungsverbot endlich durchzusetzen, entschied sich diesmal Jarosław Kaczyński, PiS-Parteivorsitzender, für einen anderen Weg. Anstatt eine weitere Debatte im Parlament zu eröffnen, beschlossen die polnischen Ultra-Konservativen, das Gesetz durch das Verfassungstribunal zu ändern. Es ist jenes Tribunal, das durch die Justizreform der Regierung in den Jahren 2015 und 2016 politisiert und seiner Unabhängigkeit beraubt wurde und bereits Massendemonstrationen und die Einleitung des EU-Verfahrens nach Artikel 7 provozierte. Heute wird das Tribunal von durch die PiS-Regierung ernannten Richtern dominiert und von Julia Przyłębska, Frau des PiS-Botschafters in Deutschland und Kaczyńskis langjährige Freundin, geleitet.
Im Dezember 2019 reichte eine Gruppe von 119 Abgeordneten, hauptsächlich von der PiS und der rechtsextremen Konföderationspartei, beim Tribunal einen Antrag ein, um zu prüfen, ob eine Abtreibung aufgrund schwerer Fehlbildungen des Fötus gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze verstößt. „Ich möchte wirklich, dass diese Art der Abtreibung auf die extremsten Fälle beschränkt wird“, erklärte Jarosław Kaczyński.
Die aktuelle Entscheidung des Tribunals bedeutet ein fast vollständiges Abtreibungsverbot in Polen. Etwa 98% der zirka 1.100 legale Abtreibungen, die jedes Jahr in Polen stattfinden, werden nämlich aufgrund schwerer Fehlbildungen des Fötus durchgeführt. Schätzungen zufolge werden dazu jedes Jahr über 100.000 illegalen Abtreibungen, im Untergrund und in Nachbarländern wie Deutschland oder der Slowakei, durchgeführt.
Während Kirche und viele PiS-Politikern das Urteil begrüßen, kritisiert die Opposition es heftig. Adam Szłapka, Vorsitzender der liberalen Nowoczesna-Partei, sagte, dass „das Pseudo-Tribunal verurteilte polnische Frauen und schaffte eine Hölle für sie“. Dunja Mijatovic, Menschenrechtskommissarin des Europarates, twitterte: „Die heutige Entscheidung des Verfassungsgerichts bedeutet Abtreibungen im Untergrund/im Ausland für diejenigen, die es sich leisten können, und noch größere Prüfungen für alle anderen. Ein trauriger Tag für Frauenrechte.“ Manche Frauenrechtsorganisationen warnten davor, dass die Entscheidung Frauen in vielen Fällen zwingen würde, todkranke Kinder zur Welt zu bringen, und dadurch „Folter durch die Hintertür legalisiere“.
Eine der Bewegungen, "Strajk Kobiet" (Deutsch: Frauenstreik), organisiert nun Proteste in ganz Polen. Bereits am Tag der Ankündigung des Urteils versammelten sich viele vor dem Parlament und seitdem protestieren jeden Tag Tausende Menschen an verschiedenen Orten in Warschau und anderen Städten. Am Freitag, dem 30. Oktober, versammelten sich 150.000 Menschen im Zentrum der polnischen Hauptstadt. Demonstrationen im ganzen Land zogen schätzungsweise 800.000 Teilnehmer an. Ausländische Medien, einschließlich CNN, kommentierten, dass Demonstrationen dieser Größenordnung zuletzt in den Zeiten der Bewegung Solidarność in den 1980er Jahren zu sehen waren.
Die Mehrheit der Demonstranten ist sehr jung. Zum ersten Mal seit der Machtübernahme von PiS gingen große Gruppen von Schülern auf die Straße und überfluteten soziale Medien. Einige von ihnen unterstützen die feministische Frauenstreik-Bewegung, sowie ihre Führerin Marta Lempart. Lempart fordert nicht nur die Aufhebung der Entscheidung des Tribunals, sondern auch die Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes. „Bei der Revolution, die angefangen hat, geht es nicht nur um Abtreibungen. Es ist ein Kampf um die Freiheit, die uns brutal genommen wurde, und Abtreibung ist nur ein Symbol,“ sagt sie. Lempart will einen „säkularen Staat mit Menschenrechten und Freiheit für alle“. Sie betont, dass die nächste Mehrheit im polnischen Parlament Sejm "Abtreibungen legalisieren, die Gleichstellung der Ehe und viele andere Dinge hereinbringen sollte".
Lempart unterstützt auch die scharfe Sprache der Demonstranten. Zum ersten Mal in Polen verwenden friedliche Demonstranten sehr vulgäre Parolen. "Wypierdalać" ("Fuck off") ist zum Motto der Demonstranten geworden, die sagen, dass PiS die ultimative Grenze überschritt und dass sie nicht mehr höflich sein möchten ("Wir waren nett, als man die Gerichte zerstörte, jetzt ist es zu spät"). Das „F-Wort“ wird vor dem Parlament, dem Verfassungstribunal, den Büros rechter Abgeordneten, aber auch vor Kaczyńskis Haus in Warschau oder Przyłębskas Residenz in Berlin in Sprechchören gesungen.
Während der Proteste attackierten die Aktivisten auch die Kirche. Top-Erzbischöfe wurden nicht nur verbal beleidigt, einige Demonstranten haben sogar Kirchen betreten und den Gottesdienst gestört – früher etwas Unvorstellbares im ultrakatholischen Polen. Es scheint, dass die Kirche ihre besondere, unantastbare Position in der polnischen Gesellschaft unwiederbringlich verliert.
Die Regierung nutzt die Proteste in den Kirchen in ihrer Propaganda gegen die Opposition. Der öffentlich-rechtliche Sender TVP stellt die Frauenstreik-Bewegung als eine gefährliche und „satanistische“ Bewegung dar. Jarosław Kaczyński war in seiner Kritik besonders dramatisch und forderte seine Anhänger auf, "polnische Kirchen um jeden Preis zu verteidigen". Als Folge bildeten Mitglieder rechtsextremer Organisationen und Fußball-Hooligans freiwillige Gruppen, um das Kirchengebäude zu „schützen“. Einige begannen sogar, protestierende Frauen auf der Straße körperlich anzugreifen.
PiS macht die Demonstrationen auch für die Covid-19-Krise verantwortlich, da die Zahl der Neuinfektionen in Polen in den letzten Tagen erheblich zunimmt. Tatsächlich verlor die Regierung die Kontrolle über die Situation und wird von allen Seiten wegen ihrer Ineffizienz im Kampf gegen die Pandemie kritisiert. Der Premierminister Mateusz Morawiecki beschränkte sogar die Größe aller Versammlungen auf fünf Personen und PiS machte so öffentliche Versammlungen illegal. Die Frauenstreik-Bewegung sagt jedoch, dass sie das Recht für „spontane Proteste“ nutzt. Hohe Regierungsbeamte und die von der PiS kontrollierte Staatsanwaltschaft erklärten, dass Protestorganisatoren mit bis zu 8 Jahren Gefängnis bestraft werden sollten.
Die Proteste finden nicht nur in Warschau und Großstädten statt, sondern auch in kleineren Städten, einschließlich derer, in denen PiS gewöhnlich gewinnt. Die Frauenrechtsaktivistinnen werden an vielen Orten von protestierenden Landwirten oder Taxifahrern unterstützt. PiS verliert an Popularität in allen Meinungsumfragen. Einer Umfrage für RMF FM Radiosender würde die Regierungspartei mit 30,9% über die Mehrheit im Sejm nicht mehr verfügen. Nach den jüngsten Untersuchungen glauben 70% der Polen, darunter 40% der PiS-Wähler, dass Jarosław Kaczyński als Parteivorsitzender zurücktreten sollte.
Aber wie geht es weiter? Meinungsumfragen zufolge bevorzugen 45-50% der Polen, das bestehende Gesetz beizubehalten. Nur 10-15% befürworten eine weitere Verschärfung, während 30-40% sich eine Liberalisierung wünschen.
Es liegen inzwischen einige Vorschläge auf dem Tisch. Präsident Duda hat ein neues „Kompromissgesetz“ vorgeschlagen. Dies wäre jedoch ein „Kompromiss“ zwischen dem Gesetz von 1993 und der Entscheidung des Tribunals. Demonstranten fordern jedoch eine Liberalisierung. Ein solches Gesetz würde dazu eine Delegitimierung des Tribunals bedeuten, da seine Entscheidungen endgültig sein sollten und durch reguläre Gesetzentwürfe nicht geändert werden können. Eine andere Lösung, die jedoch auch gegen die Autorität des Verfassungstribunals verstößt, könnte die Entscheidung des Premierministers sein, das Urteil im Amtsblatt nicht zu veröffentlichen. Einige Politiker schlagen sogar ein Referendum über Abtreibungen vor. Unabhängigen Anwälten zufolge sei es jetzt ein guter Moment, das politisierte Tribunal abzuschaffen, illegal ernannte Richter zu entfernen und ein neues Gremium zu schaffen. Marta Lempart sagt: „Wir sind bereit, bis zum Ende zu kämpfen.“ Neue Proteste werden polnische Städte heute, morgen, übermorgen blockieren…
Milosz Hodún ist Referent der liberalen Nowoczesna-Partei und Vorstandsmitglied von „Projekt: Polska“. Seine Interessensfelder sind vergleichendes Verfassungsrecht und Föderalismus. Bis September 2015 war er als Experte im Rahmen des „Presidential Experts' Program“ in der Kanzlei des Präsidenten der Republik Polen tätig. Er ist Zweiter Vizepräsident des Vorstands des Europäischen Liberalen Forums.