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Charles Michel - Wie der Vater, so der Sohn?

Europa-Experte Markus Kaiser stellt den neuen EU-Ratspräsidenten Charles Michel vor.

Der scheidende belgische Premierminister Charles Michel ist als neuer EU-Ratspräsident vorgesehen und wird als solcher künftig den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten vorstehen. Wer ist der Mann, der in Belgien eine widrige Koalition mit Leben füllte, wichtige Reformen anstieß und Belgien zu einem verlässlichen Partner auf der europäischen Bühne machte?

Europa habe einen „vernünftigen, starrköpfigen Mann“ ausgewählt – dies waren die Worte von Charles Michels‘ Vater Louis unmittelbar nach Bekanntgabe des Personalpakets, das den liberalen belgischen Premierminister als künftigen EU-Ratspräsidenten vorsieht. Vater Louis weiß, wovon er spricht: Er selbst war 25 Jahre lang Abgeordneter im belgischen Parlament, über zehn Jahre Parteivorsitzender der liberalen wallonischen Partei „Mouvement Réformateur“, fünf Jahre belgischer Außenminister und ebenso lange EU-Kommissar. Bis Mai 2019 saß der inzwischen 71-Jährige für die wallonischen Liberalen im Europaparlament. Große familiäre Fußstapfen also, die sein 43-jähriger Sohn Charles spätestens seit der Ernennung zum Präsidenten des Europäischen Rates mehr als ausfüllt.

Rüstzeug als belgischer Regierungschef

Als belgischer Premierminister stand Charles Michel zuletzt vier Jahre einer überaus komplizierten belgischen Föderalregierung vor. Da nach der Parlamentswahl im Mai 2014 erstmals seit Jahrzehnten eine Regierung ohne Beteiligung der wallonischen Sozialisten begründet werden konnte, jedoch ein Premierminister der stärksten Partei, der flämisch-separatistischen N-VA, auf Bundesebene nicht vermittelbar war, einigte man sich auf einen typisch belgischen Kompromiss: eine Koalition aus flämischen Separatisten, flämischen und wallonischen Liberalen sowie flämischen Christdemokraten unter der Führung eines liberalen frankophonen Premierministers. So etwas hatte es nie zuvor gegeben. Kritiker nannten die Konstruktion spöttisch „Kamikazekoalition“.

„Die Regierung, die er in Belgien anführte, war keine einfache“, sekundiert Vater Louis. „Hier bewies er, dass er mit schwierigen Koalitionen arbeiten kann, dass er ein Mann des Konsenses ist, der in Verhandlungen ein gewisses Geschick besitzt. Dies wird in Europa zu Recht hochgeschätzt.“ So gelang es Sohn Charles als belgischem Premierminister, längst überfällige Reformen anzustoßen und dabei das fragile Gleichgewicht zwischen flämischen und wallonischen Interessen zu wahren. Und ihm gelang, was noch kein Wallone in Belgien vor ihm geschafft hatte: Er wurde in Flandern zum beliebtesten Politiker gewählt.

Als Premierminister nahm Michel unter anderem den Kampf mit den in Belgien überaus einflussreichen und streitlustigen Gewerkschaften auf. Auch als EU-Ratspräsident wird er renitenten Ratsmitgliedern die Stirn bieten müssen, nicht zuletzt bei der Einhaltung rechtsstaatlicher Standards in den Mitgliedstaaten. „Charles ist ein sehr engagierter Europäer“, bestätigt Vater Louis. „Er erkannte früh, dass heutzutage einzelne Länder nicht mehr zählen, sondern dass fast alle aktuellen Probleme in größeren Zusammenhängen betrachtet werden müssen.“ Hier sei für ihn persönlich die europäische Ebene die wichtigste, da auf ihr – im Gegensatz zur globalen Ebene – noch Politik gestaltet werden könne.

Multilateralismus in die Wiege gelegt

Als Premierminister eines kleinen Landes wie Belgien stimmte sich Charles Michel in vielen Angelegenheiten eng mit europäischen Partnern ab, stärkte insbesondere das BeNeLux-Format zur Lösung grenzüberschreitender Probleme. Auch sein mitternächtlicher Ausflug zu Fritten und Bier mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, Staatspräsident Emmanuel Macron, Luxemburgs Premier Xavier Bettel und dem damaligen dänischen Ministerpräsidenten Lars Løkke Rasmussen am Rande des EU-Gipfels im Oktober 2018 ist in Brüssel nach wie vor in aller Munde.

„Eine seiner Stärken ist der Respekt, den er gegenüber anderen Menschen zeigt, sowie die Tatsache, dass er anderen zuhören kann“, ist Vater Louis überzeugt. Allerdings wird es als Ratspräsident mehr brauchen als Fritten, Bier und ein offenes Ohr, um die Geschicke und Befindlichkeiten der zunehmend divergierenden EU-Mitgliedstaaten zu koordinieren. Doch auch hier ist Vater Louis unbesorgt. „Wenn er etwas von mir gelernt hat, dann vor allem, wie er es nicht tun sollte“, sagt er verschmitzt. „Als Politiker war ich oft zu impulsiv, zu emotional. Charles hat seine größten Qualitäten nicht von mir, sondern von seiner Mutter geerbt. Beide sind kontrolliert, geplant, bisweilen streng und rational.“

Dann verweist er auf eine Pressekonferenz, die sein Sohn unmittelbar nach der Ernennung zum künftigen Ratspräsidenten in Brüssel gab. „Charles hat dort sofort den richtigen Ton getroffen: diplomatisch, sehr ausgewogen und wie immer nüchtern.“ Vater Louis sieht seinen Sohn an der richtigen Stelle und die Geschicke des Europäischen Rates in den richtigen Händen. „Er geht seinen Weg, und ich bin stolz darauf. Und anstatt mich einzumischen, werde ich die Enkel babysitten. Dazu werde ich künftig wohl öfter die Gelegenheit haben.“

 

 

Markus Kaiser ist Referatsleiter Europa der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Die vergangenen sieben Jahre arbeitete er im Regionalbüro der Stiftung in Brüssel.