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Nordkoreas Atomprogramm löst eine Rüstungsspirale aus

Dieser Artikel ist zuerst am 28. September 2017 bei der Neuen Zürcher Zeitung erschienen und online hier zu finden.

Es gibt kein realistisches Szenario, mit dem sich Nordkoreas Regime dazu bewegen liesse, auf die Atombome zu verzichten. Die Folge wird sein, dass die Nachbarn Südkorea und Japan massiv aufrüsten.

Gegenwärtig wird der 40. Jahrestag des Deutschen Herbstes begangen. Die damaligen politisch Verantwortlichen liessen sich in ihrem Kampf gegen die RAF von der Maxime leiten, dass sich der Staat nicht erpressen lassen dürfe. Auch die gegenwärtige Situation auf der koreanischen Halbinsel trägt die Züge einer Geiselnahme. Seit Jahrzehnten droht das Regime in Pjongjang Seoul, der Hauptstadt des südlichen Nachbarn, mit vollständiger Vernichtung. Das mag Säbelrasseln sein. Schon das Zerstörungspotenzial seiner konventionellen Waffen aber ist enorm.

Die Opferung der Geisel oder ihre gewaltsame Befreiung – zwei Szenarien des Deutschen Herbstes – scheinen als Lösung des Pokers um das nordkoreanische Atomprogramm also auszuscheiden. Zu verheerend wären die menschlichen, politischen und weltwirtschaftlichen Folgen. Was der Region Ostasien nun allerdings droht, ist ein Rüstungswettlauf und damit möglicherweise eine Renaissance des Kalten Krieges.

An die apokalyptischen Reden, an die Raketen- und Atomtests der Führung in Pjongjang schien man sich in Seoul und Washington im Lauf der Jahrzehnte gewöhnt zu haben. Unter Kim Jong Un indes sind die Dinge eskaliert und haben sich Abläufe beschleunigt. Über achtzig ballistische Raketen wurden seit Kims Machtübernahme Ende 2011 abgefeuert, rund zwanzig allein in diesem Jahr. Vier von insgesamt sechs Atomtests fanden unter Kims Ägide statt. Beim Test vom 3. September handelt es sich nach jüngsten Erkenntnissen tatsächlich um eine Wasserstoffbombe mit einer Sprengkraft von zwei- bis dreihundert Kilotonnen. Zum Vergleich: Über Hiroshima explodierten fünfzehn Kilotonnen.

Mit diplomatischen Formeln lässt sich die Gefahr nicht mehr länger verdrängen. Kims Absicht ist offensichtlich: Er will seinen Staat zu einer Atommacht machen. Die Bombe braucht er zunächst als Lebensversicherung, das Schicksal von Saddam Hussein und Muammar al-Ghadhafi steht ihm vor Augen. Verhandeln wird er über das Raketen- und Atomprogramm nicht mehr. Dazu ist es zu weit gediehen. Auch Sanktionen werden wohl nicht mehr viel ausrichten. Per se wirkungslos sind sie, anders als es dieser Tage häufig zu hören ist, übrigens nicht. Das Problem war und ist, dass sie niemals ernsthaft umgesetzt wurden, vor allem von China nicht.

Dass Kim mit seiner Rüstungspolitik bis jetzt reüssiert, liegt auch an der Uneinigkeit der Akteure im nordpazifischen Raum. Weder in Peking noch in Washington hat die politische Führung bis heute eine stringente Nordkorea-Politik entwickelt. Von einer gemeinsamen Linie kann erst recht keine Rede sein. – In Südkorea werden derweil Forderungen nach einer Stärkung des Militärs oder gar nach eigenen Atomwaffen lauter. Die Zahl derer, die eine Revision der nationalen Verteidigungspolitik fordern, wächst. Laut einer Gallup-Umfrage vom 5. bis 7. September, durchgeführt kurz nach dem jüngsten Atomtest, wünschen sich sechzig Prozent der Befragten ein eigenes, südkoreanisches Atomprogramm. Die technischen Voraussetzungen wären gegeben, bis in drei Jahren könnte Seoul über entsprechende Waffen verfügen. Die konservative Opposition im Parlament fordert die erneute Stationierung taktischer amerikanischer Nuklearwaffen – solche gab es bis 1991 bereits. Und die politischen Widerstände der Sozialliberalen unter Präsident Moon Jae In gegen die Stationierung des amerikanischen Raketenabwehrsystems Thaad (Terminal High Altitude Area Defense) im Zentrum des Landes sind mittlerweile abgeebbt.

Präsident Trump scheint, anders als noch im Wahlkampf, weit davon entfernt, die US-Truppen aus Südkorea abzuziehen. Mehr noch: Er will den Bündnispartner mit mehr Waffen beliefern. Japans konservativer Ministerpräsident Abe Shinzo kann im Schatten der nordkoreanischen Bedrohung die Remilitarisierung des Landes betreiben. Und auch Russland hat sich unlängst wieder in die Nordkorea-Debatte eingeschaltet, sicherlich nicht in humanitärer Absicht.

Wenngleich es das Budget fürs eigene Militär derzeit massiv erhöht, dürften China ein Rüstungswettlauf vor seiner Haustür und die Perspektive eines atomaren Gleichgewichts des Schreckens nicht gefallen. Peking hat in diesem Herbst noch einen Parteitag zu bestehen. Nicht auszuschliessen, dass Xi Jinping mit einer teilweise erneuerten Führungsmannschaft einen neuen politisch-diplomatischen Anlauf unternimmt, das Nordkorea-Problem zu lösen. Aber auch dann bleibt die Frage, womit sich Kim eigentlich noch zügeln liesse. Dass es ihm lediglich um einen Friedensvertrag mit Seoul oder Washington geht, ist eine Hoffnung, die mehr als naiv erscheint. Das Atomprogramm dürfte Pjongjang am Ende nicht nur aus Gründen des Selbstschutzes entwickelt haben, sondern auch als Druckmittel, um mittel- und langfristig konkrete politische und finanzielle Forderungen zu erheben.

Nationaler Dünkel, unbewältigte historische Konflikte und ein tiefes gegenseitiges Misstrauen prägen das ostasiatische Staatengefüge. Auch das macht die Deeskalation der gegenwärtigen Spannungen anspruchsvoll. Dennoch: Die Region darf sich nicht aufgeben. Es muss verhandelt werden.

Lars-André Richter leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Seoul. Er ist zuständig für die Projektarbeit der Stiftung in Süd- und Nordkorea.