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Burkhard Hirsch: Eine Ikone des liberalen Rechtsstaats

Hirsch

Burkhard Hirsch (1930-2020) hat das liberale Gewissen der  Bundesrepublik maßgeblich mitgeprägt. Er hat den Bürgerinnen und Bürgern begreifbar gemacht, was ein gelebter werteorientierter Rechtsstaat ist und welche Mittel jeder in der Hand hält, sich gegen die Beschneidung seiner Freiheit zu wehren. Die von Burkhard Hirsch vertretenen politischen und gesellschaftlichen Ideale, das Bewusstsein für Bürgerrechte, Privatsphäre und einen werteorientierten Rechtsstaat, sind gerade in der heutigen Zeit hochaktuell. Über Hirschs Lebensweg, seine politischen Ziele und seine bleibenden Verdienste informiert diese Broschüre aus unserer Reihe „Public History“.

Man bekämpft Feinde des Rechtsstaats nicht mit dessen Abbau, und man verteidigt die Freiheit nicht durch deren Einschränkung.

Erklärung der Humanistischen Union, 1978

Ein Liberaler von Beginn an (1930-1959)

Burkhard Hirsch wurde am 29. Mai 1930 als Sohn eines Richters in Magdeburg geboren und besuchte das Gymnasium in Halle an der Saale. Seinem Vater attestierte er später den Irrglauben, man könne sich unpolitisch ver- halten, was gerade in Zeiten einer Diktatur nicht möglich sei. Zwar wurde dieser Parteimitglied, habe sich aber geweigert, an Strafsachen mitzuwirken. Seine Mutter war eine „höhere Tochter“, die das Lyzeum besucht und anschließend eine Haushaltslehre absolviert hatte. Die Familie vermittelte ihm einen bildungsbürgerlichen Hintergrund. Gerade den alltäglichen politischen Druck des NS-Regimes ahnte Hirsch als Pimpf in der Hitlerjugend, als er einer Frau mit einem gelben Stern begegnete. Zumindest beschlich ihn das Gefühl, ihre Furcht vor ihm als etwa Neunjährigen habe etwas Ungewöhnliches, ja Ungerechtes zu bedeuten. Am eigenen Leib musste er dann die Schrecken des Krieges miterleben, als die alliierten Luftangriffe auch Halle trafen.

Das Kriegsende erfuhr er als Umbruch: Übergriffe der Roten Armee, die zweijährige Haft des Vaters und die politische Anpassungsfähigkeit eines NS-gläubigen Lehrers. Ihn selbst trieb das Nachkriegsklima jedenfalls an, sich im Alter von 18 Jahren politisch zu betätigen. „Ich hatte begriffen, dass Politik eine viel zu ernste Sache ist, als dass man sie anderen überlassen dürfte.“ Er suchte eine Partei, in der „man nicht gegängelt wird; und da habe ich keine andere gesehen als damals die LDP“. Aus seiner Sicht entsprachen nur die Liberaldemokraten seinem Freiheitsdrang; die anderen ostdeutschen Parteien waren entweder zu konservativ oder sowjetisch dominiert.

Hirsch arbeitete zunächst als Chemiehilfsarbeiter in Leuna, was sein soziales Gewissen lebenslang schärfen sollte. Dann fasste er den Entschluss, in Halle zu studieren. Doch die Warnung, dass LDP-Mitglieder politisch verfolgt würden und sich die Sowjetische Militäradministration nach seiner Familie erkundigt habe, veranlasste ihn 1949, über den Harz und die Zonengrenze nach Braunschweig zu fliehen.

Noch in der Sowjetischen Besatzungszone hatte Hirsch den Parteifreund Reinfried Pohl kennengelernt. Ihn traf er an der Universität Marburg wieder, an der er zunächst Medizin und dann Jura studierte, 1954 mit dem Ersten und 1959 mit dem Zweiten Staatsexamen abschloss. Auch politisch fand er sein Betätigungsfeld erneut bei den Liberalen: Bereits 1949 trat er der FDP bei. In den Semesterferien zog er als Hausierer mit Rasierklingen durch Süddeutschland und traf in Bamberg auf Thomas Dehler, dessen Offenheit ihn sehr beeindruckte. In Marburg zählten der spätere Bundesjustizminister Gerhard Jahn (SPD) und der nachmalige Europapolitiker Egon Klepsch (CDU) zu seinen Kommilitonen.

Das Publikum bei den FDP-Parteiveranstaltungen der 1950er Jahre irritierte Hirsch allerdings: eine Mischung aus jungen Aktiven und starren Antikommunisten. Insbesondere die „Jungen Adler“ aus dem Landesverband Nordrhein-Westfalen, die äußerlich wie Hitlerjungen auftraten, erregten seinen Widerwillen.

Als er 1955 beruflich nach Düsseldorf ging, erlebte er die rechtsradikalen Auswüchse in der FDP unter Friedrich Middelhauve vor Ort. „Ich merkte, es entsteht hier eine Gesellschaft, die nicht meine ist, die ich anders haben möchte“, äußerte er später. Das Schweigen über die NS-Vergangenheit empörte ihn ebenso wie die Tatsache, dass sich frühere Nationalsozialisten in Spitzenämtern des Staates und aller Parteien betätigen durften.

Kandidatenflugblatt der FDP-NRW zur Bundestagswahl 1969
Kandidatenflugblatt der FDP-NRW zur Bundestagswahl 1969 © ADL* Flugblattsammlung, E1-201

Jungdemokrat und Kommunalpolitiker (1959-1975)

Hirsch wurde 1959 Landesratsvorsitzender der Deutschen Jungdemokraten (DJD) in Nordrhein-Westfalen und blieb dies bis 1964. Als sein Parteifreund Gerhart Baum in Köln aus Protest gegen national-konservative Tendenzen eine eigene Gruppierung innerhalb der DJD bilden wollte, drohte der auf die Einheit des Verbandes bedachte Hirsch ihm mit dem Ausschluss aus der Jugendorganisation. Doch zu beidem kam es nicht; vielmehr führte trotz dieser Episode der gemeinsame Kampf für eine inhaltliche und personelle Erneuerung der FDP „den Baum“ und „den Hirsch“ politisch schließlich zusammen.

1964 war Hirsch in die Düsseldorfer Kommunalpolitik ein- gestiegen, wo er sich bis Mitte der 1970er Jahre im Stadtrat und im Kreisvorstand engagierte. Hier kümmerte er sich, zuletzt als stellvertretender Fraktionsvorsitzender, in diversen Ausschüssen um Wirtschaftsförderung, Krankenhauswesen und Stadtplanung. „Die Zeit in der Kommunalpolitik gehört für mich zu den schönsten und wichtigsten“, bemerkte er im Rückblick. In der Kommunalpolitik lerne man Sozialpolitik vor Ort — eine Erfahrung, von der man als Politiker lebenslang profitiere. In den sechziger Jahren festigten sich Hirschs liberale Überzeugungen: Deutschlandpolitisch warf er Adenauer und der Union vor, die Westbindung sehr einseitig zu betreiben anstatt nach Osten Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Auch innerparteilich trat er für die Neue Ostpolitik von Walter Scheel und Hans- Dietrich Genscher ein und kämpfte gegen die national- liberale Ausrichtung der FDP unter Erich Mende.

Scheel fand auch Hirschs Unterstützung, als er mit der sozial-liberalen Neuausrichtung als Parteivorsitzender nach 1968 das Auseinanderbrechen und da- mit die Existenz der Partei riskierte. Die Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten im März 1969 bedeutete für die Gefolgsleute Scheels in der FDP Symbol und Signal zugleich, dem dann im Oktober die Bildung der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt und Walter Scheel folgte. Hirsch bewunderte Scheel als Außenminister, der mit den Ostverträgen für den Abbau der Spannungen zwischen den ideo- logischen Blöcken sorgte. Zugleich unterstützte er innerparteilich den Erneuerungsprozess. Hirsch trat mit Leidenschaft für das Freiburger Programm von 1971 ein, das mit Thesen zur Eigentumsordnung, Vermögensbildung, Mitbestimmung und Umweltschutz eine Reform des Kapitalismus anstrebte und an die soziale Funktion einer liberalen Gesellschaftspolitik appellierte. Unter Federführung des späteren Innenministers Werner Maihofer betonte es zudem die historische Mission und die soziale Verantwortung der Liberalen. Seit den vorgezogenen Wahlen von 1972 vertrat Hirsch die FDP im Deutschen Bundestag und machte sich als Rechtspolitiker sogleich in zwei gewichtigen Untersuchungsausschüssen einen Namen: zum konstruktiven Misstrauensvotum von 1972 und zur Guillaume-Spionage-Affäre des Jahres 1974.

Zwei Dinge benötige man für die Politik, stellte Hirsch später einmal fest: ein ausgeprägtes Gefühl für die „Lebenswirklichkeit der Menschen“ und einen festenBeruf, um jenseits der Politik finanziell abgesichert zu sein. Hirsch hatte von 1960 bis 1967 als Jurist bei der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie gearbeitet und war anschließend als Justitiar beim Walzstahlkontor West in Duisburg-Rheinhausen und schließlich von 1973 bis 1975 als Direktor bei Mannesmann in Düsseldorf tätig gewesen. Umso mehr geriet er ins Überlegen, als er 1975
vom nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Heinz Kühn (SPD) dazu aufgefordert wurde, das Amt des Innenministers zu über- nehmen. Sollte er – was dann unausweichlich war – wirklich seinen Beruf aufgeben, sein Bundestagsmandat niederlegen und als Minister in die NRW-Landesregierung wechseln?

Innenminister von Nordrhein-Westfalen (1975–1980)

Das Amt des Innenministers bedeutete für Burkhard Hirsch die Möglichkeit, seine rechts- und sozialpolitischen Überzeugungen in der Regierung des bevölkerungsreichsten Bundeslandes umzusetzen. Diese Chance hat er ergriffen und überzeugend genutzt. Eine umfassende Verwaltungsreform, verbunden mit einem erheblichen Bürokratieabbau, und die Verankerung des Datenschutzes in der Landesverfassung zählten zu Hirschs wichtigsten Maßnahmen. Er
sah sich zudem mit Herausforderungen konfrontiert, die – schwierig für einen Liberalen – zu prinzipiellen Entscheidungen zwischen den Polen Freiheit und Sicherheit zwangen. Denn in seiner fünfjährigen Ministerzeit bedrohte der Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF) Staat und Gesellschaft. Bei der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer im Herbst 1977 fiel eine Fahndungspanne bei der Kölner Polizei in Hirschs politischen Verantwortungsbereich. Zwar kam der Sonderermittler Hermann Höcherl (CSU) später zu dem Ergebnis, dass dem Innenminister nichts anzulasten sei, aber der Vorfall hat Hirsch psychisch außerordentlich belastet. Bei der Durchsetzung des Rechtsstaats ging Hirsch stets konsequent vor, auch wenn dies auf Widerstände traf. Er ließ besetzte Häuser räumen, und er trat sehr lange für die Regelanfrage beim Verfassungsschutz („Radikalenerlass“) ein, weil er am eigenen Leib erfahren hatte, wie Lehrer ihre Schüler ideologisch prägen könne. 

Hirsch blieb zeitlebens ein sozial engagierter Liberaler wie er im Buche steht. Soziale Gerechtigkeit wurde für ihn zu einem zentralen Leitbild. Er trat zudem für den Umweltschutz ein und lehnte die Atomenergie hartnäckig ab. Kritisch begleitete er die wirtschaftsorientierte Linie der Parteiführung Ende der 70er Jahre. Mit Gerhart Baum saß er auf dem Kieler Parteitag 1977 in der Programmkommission, die Bürgerrechte mit Wirtschaftsförderung vereinbaren wollte. Weder im Staat noch in der Partei scheute Hirsch die Verantwortung: Seit 1976 (und bis 2003) war er Mitglied im FDP-Bundesvorstand und auch in der NRW-FDP übernahm er nach dem Abschied von Horst-Ludwig Riemer zwischen 1979 und 1983 den Vorsitz. Aber bei den Landtagswahlen 1980 steckte die nordrheinwestfälische FDP eine schmerzliche Niederlage ein und flog aus dem Parlament. Obwohl der damalige NRW-Ministerpräsident Johannes Rau ihn bat, trotzdem weiterhin im Amt zu bleiben, lehnte Hirsch dies ab, weil es gegen sein Demokratieverständnis verstieß, ein Ministeramt zu behalten, ohne dass die ihn stützende Partei im Landtag saß.

Im Bundesvorstand der FDP und im Deutschen Bundestag (1980-1998)

Ohne Amt und ohne Mandat in Nordrhein-Westfalen kandidierte Hirsch bei den Bundestagswahlen 1980 erfolgreich und kehrte nach fünfjähriger Pause in den Deutschen Bundestag zurück. Die Anti-Strauß-Abstimmung des Jahres 1980 sah er zugleich als Vertrauensvotum für den von ihm geschätzten Bundeskanzler Helmut Schmidt. Umso mehr belastete ihn der Kurs der FDP-Parteiführung, welche die Koalition erst infrage stellte und schließlich deren Bruch riskierte. Das Wende-Papier von Otto Graf Lambsdorff vom September 1982 lehnte Hirsch inhaltlich ab, noch weniger akzeptierte er, dass der Wirtschaftsminister es ohne vorherige Zustimmung der Parteigremien dem Bundeskanzler vorgelegt hatte. Als Kritiker des Koalitionswechsels von 1982 verhielt er sich ähnlich wie Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Brücher. Sie blieben der FDP trotz massiver Vorwürfe gegenüber der Parteispitze treu, während andere wie Günter Verheugen oder Ingrid Matthäus-Maier zur SPD wechselten oder wie Helga Schuchardt die Partei verließen. Hirsch konnte seinen Parteifreund Baum davon überzeugen, sich zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden wählen zu lassen, sodass sie nach 1983 gemeinsam das soziale Gewissen und das Aushängeschild für Menschen- und Bürgerrechte in der FDP bildeten. Die Rechts- und Innenpolitik blieb für Hirsch weiterhin das dominierende Thema. Er setzte sich für das Asylrecht ein und fand im Datenschutz ein lohnendes Betätigungsfeld. Hirsch betonte: „Sicherheit ist ein Mittel, um Freiheit zu gewähren – kein Selbstzweck.“ Dennoch hatte er im Rückblick den Eindruck, dass die Liberalen sich nach 1983 in der Innenpolitik gegenüber dem Koalitionspartner CDU/CSU „nicht genügend durchgesetzt hätten“. Mit Baum sprach er gegenüber dem Apartheid-Regime in Südafrika Menschen- rechtsfragen an. Wenn es um Grundrechte und Rechtsstaat ging, konnte Hirsch so unbequem und unbeugsam auftreten wie es seinem Naturell entsprach und wie es sein Gerechtigkeitsempfinden forderte.

Ein Herzensanliegen – allein schon aufgrund seiner ostdeutschen Herkunft – war ihm natürlich insbesondere die Deutschlandpolitik und die Wiedererlangung der Deutschen Einheit. Hier sah sich der gebürtige Magdeburger auf einer Linie mit dem Hallenser Hans- Dietrich Genscher und den aus Dresden stammenden Wolfgang Mischnick und Gerhart Baum. Helmut Kohls Anteil am Zustandekommen der deutschen Einheit werde „dramatisch überschätzt“, denn der Grundkern der Einigungspolitik stamme von Genscher. Als sich Hirsch mit dem Außenminister 1990 zum ersten Mal als Wahlkampfhelfer in Halle aufhielt, war er tief beeindruckt vom Freiheitswillen der Ostdeutschen. Die Vereinigung von West- und Ostdeutschland bildete zweifellos den emotionalen Höhepunkt seines politischen Lebens. Aber damit, so war Hirsch überzeugt, begann erst die eigentliche politische Aufgabe. Denn nach 1990 ging es in den neuen Bundesländern „um die Veränderung der Köpfe“. Hirsch setzte sich für ein konsequentes Durchgreifen gegen Parteimitglieder ein, denen eine frühere Arbeit für die Staatssicherheit nachgewiesen wurde. Das machte ihn nicht beliebt,aber er wollte – wie immer – lieber für rechtsstaatliche und ethische Werte sowie für Transparenz eintreten als sich um des Friedens willen ruhig zu verhalten.

Diese Klarheit leitete ihn auch bei zwei innerparteilich sehr umstrittenen Entscheidungen: Nach der Zustimmung der FDP-Fraktion zum Großen Lauschangriff 1995 trat Hirsch als innenpolitischer Sprecher der Fraktion zurück. Nachdem er selbst diesen Beschluss nicht mittragen konnte, ermöglichten ihm aus seiner Sicht die Anforderungen und demokratischen Regeln nicht mehr die gewissenhafte Ausübung dieses Amtes. Und in der letzten Sitzung der 13. Legislaturperiode des Bundestages 1998 war er der einzige FDP-Abgeordnete, der gegen die Beteiligung deut- scher Bundeswehrsoldaten an einem NATO-Einsatz im Kosovokrieg stimmte. Er hielt den Krieg für völkerrechtswidrig und ließ sich in seiner Ansicht auch nicht beirren. Die letzten vier Jahre seiner Zugehörigkeit zum Bundestag von 1994 bis 1998 amtierte Hirsch als dessen Vizepräsident – es war das höchste Staatsamt, das er je erreicht hat.

Burkhard Hirsch in den 1990er Jahren.
Burkhard Hirsch in den 1990er Jahren. © Darchinger. Nutzungsrecht FNF. ADL, Fotosammlung, FD_0056

Ein Streiter vor dem Bundesverfassungsgericht (1999-2020)

Burkhard Hirsch, der sich nach 1998 nicht mehr für ein Bundestagsmandat bewarb, beendete seine Karriere in politischen Ämtern, als mit den gestiegenen Herausforderungen an die Sicherheit der Bürger der Kampf
um Freiheit, Rechtsstaat und Bürgerrechte in eine neue Phase trat. Zunächst unter dem Vorwand einer drohenden Explosion organisierter Kriminalität, nach den Anschlägen des 11. September 2001 dann unter Ver- weis auf einen international operierenden islamistischen Terrorismus, wurden ab Ende der 1990er Jahre zahllose Sicherheitsgesetze erlassen, welche die Grund- und Freiheitsrechte immer weiter beschnitten. So wurde Anfang 1998 der Große Lauschangriff beschlossen, den Hirsch mit seinen Mitstreitern schon seit Jahren politisch bekämpft hatte. 2005 sollte dann das Luftsicherheitsgesetz der Bundeswehr erlauben, entführte Passagierflugzeuge im deutschen Luftraum abzuschießen. Im Jahr 2007 wurde die Vorratsdatenspeicherung in Deutsch- land eingeführt, gegen die sich Hirsch noch bis an sein Lebensende einsetzte. Im Januar 2009 trat schließlich mit dem Bundeskriminalamtsgesetz ein ganzes Paket ausufernder Überwachungsbefugnisse zur Abwehr des internationalen Terrorismus in Kraft.

Diese sicherheitspolitischen Reformen, die nur die Spitze des Eisberges bilden, griffen tief in die Grund- und Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger ein. Die Politik reagierte nahezu kopflos auf die komplexe und abstrakte Gefahr des Terrorismus und drohte, mit diesen Maßnahmen die freiheitliche Ordnung in eine Krise zu stürzen. Die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung beschleunigten diese Entwicklung und ließen nach dem Vorbild Chinas den Appetit der Sicherheitsbehörden auf neue Eingriffs- und Überwachungsinstrumente wachsen.

Burkhard Hirsch war aufgrund seiner politischen Erfahrungen im Umgang mit dem RAF-Terrorismus und seines klaren bürgerrechtlichen Wertekompasses ein wichtiger Kommentator, Berater und Ideengeber. Er wurde mit seinen politischen Freunden, insbesondere Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Gerhart Baum, zum bürgerrechtlichen Gewissen der gesamten deutschen Politik und Gesellschaft.

Kampf gegen den Großen Lauschangriff

Burkhard Hirschs bürgerrechtlicher Einfluss lässt sich ins- besondere an den verfassungsrechtlichen Grundsatzurteilen messen, die er mit seinen Unterstützern erstritt. Als Vorreiter und regelmäßiger Verfahrensbevollmächtigter verstand er es wie kein Zweiter, die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) als Hüterin der Verfassung zu nutzen, um eine ausufernde und für die Bürgerrechte gefährliche Sicherheitspolitik in die Schranken zu weisen. Erfolg hatte er dabei 2004 gegen den Großen Lauschangriff. Jahrelang hatte er gegen die akustische Wohnraumüberwachung und die damit verbundene Änderung des Art. 13 Grundgesetz (GG) gekämpft. Zunächst innerparteilich, was ihn 1995 zum Rücktritt als innenpolitischer Sprecher und seine Verbündete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im folgenden Jahr sogar zum Rückzug aus dem Amt der Bundesjustizministerin bewog.

Nachdem der Große Lauschangriff im Januar 1998 dann schließlich doch mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag verabschiedet wurde, setzte sich Burkhard Hirsch zusammen mit Gerhart Baum und Sabine Leutheusser- Schnarrenberger fortan als kritischer Bürger mit den Mitteln der Verfassungsbeschwerde gegen ihn ein. Fast zehn Jahre nach dem Ergebnis des Mitgliederentscheids der FDP für den Großen Lauschangriff zahlte sich seine für ihn typische Beharrlichkeit und Prinzipientreue aus. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2004 setzte dem Lauschangriff engste Grenzen. Der „Kernbereich privater Lebensgestaltung“, so ist seither klar, muss stets geschützt bleiben. Ermittlungen in diesem Bereich müssen sofort abgebrochen, entsprechende Aufnahmen können nicht verwertet werden. Seit 2016 wird dies auch durch eine unabhängige Stelle überwacht. Die Karlsruher Richter setzten damit dem wachsenden Überwachungsstaat auf Hirschs Wirken hin eine klare Grenze.

Wir wollen einen Staat, der weder mit stiefelknallender Macht herrschen noch uns mit den leisen Sohlen des wohlwollenden Vormunds überwachen und gängeln will.

Der FDP-Politiker und frühere nordrhein-westfälische Innenminister Burkhard Hirsch ist im Alter von 89 Jahren gestorben.
Burkhard Hirsch, Zeit online, 3. März 2005

Einsatz gegen das Luftsicherheitsgesetz

Nur ein Jahr nach dem BVerfG-Urteil, 2005, sah Hirsch die Grenzen des Grundgesetzes ein weiteres Mal verletzt und zog zusammen mit Gerhart Baum gegen das Luftsicherheitsgesetz vor das Bundesverfassungsgericht. Bedenken hatte Hirsch dabei vor allem gegen die neu eingeführte Ermächtigung der Streitkräfte, entführte Passagierflugzeuge abzuschießen, die mutmaßlich gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollten. Das Verfassungsgericht gab ihm auch hier recht. Mit seinem Urteil vom 15. Februar 2006 erklärte es vor allem §14 Abs. 3 des Gesetzes und die darin enthaltene umstrittene Ermächtigung für nichtig. Es sah hierin eine Verletzung des Rechtes auf Leben in Verbindung mit der Menschenwürde, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen sind. Hirsch erreichte damit eine wichtige rechtliche Konkretisierung des Zusammenhangs von Lebensschutz und Menschenwürde. Dem Gesetzgeber wurde eine wichtige Grenze im „Kampf gegen den Terrorismus“ aufgezeigt. Der Staat darf seine Bürger niemals zum bloßen Objekt einer Rettungsaktion machen.

Walter Scheel: Ein großer Liberaler

Walter Scheel Vereidigung

Am 8. Juli 2019 wäre Walter Scheel 100 Jahre alt geworden. Zeit seines Lebens war er ein optimistischer Visionär und mutiger Gestalter. Die Positionierung der FDP als moderne Partei, die europäische Einigung und auch die Deutsche Einheit hat er gestaltet und vorbereitet. Anders als viele seiner Zeitgenossen gerade unter den Liberalen, war seine pro-europäische Haltung nicht allmählich – durch Einsicht oder Anpassung – gewachsen, sondern stand von Beginn seines politischen Wirkens an fest.

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"Meinem Vater ging es nie um sich, sondern um das Wohl und die Freiheit aller"

Der FDP-Politiker und frühere nordrhein-westfälische Innenminister Burkhard Hirsch ist im Alter von 89 Jahren gestorben.

Burkhard Hirsch war von 1975 bis 1980 Innenminister von Nordrhein-Westfalen und später Vizepräsident des Deutschen Bundestages, zugleich war er über Jahrzehnte Mitglied im FDP-Bundesvorstand. Mit seinem Sohn Alexander Hirsch sprachen haben wir über den liberalen Bürgerrechtler in einem Interview.

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