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Ukraine
10 Jahre Besetzung der Krim: Menschenrechte im Schatten des Krieges

Pro-russische Soldaten auf der Krim.

Pro-russische Soldaten auf der Krim.

© picture alliance / AP Photo | Vadim Ghirda

In den zweieinhalb Jahren der groß angelegten militärischen Invasion der Ukraine durch Russland hat sich die Menschenrechtslage auf der besetzten Krim dramatisch verschlechtert. Zum ersten Mal seit 2016 ist die Praxis des gewaltsamen Verschwindenlassens zurückgekehrt, es gibt beispiellosen Druck auf unabhängige Anwälte, und Journalisten und Menschenrechtsverteidiger sind Verfolgung ausgesetzt. Dazu kommen Schikanen und amtliche Verfolgung von pro-ukrainischen Meinungsäußerungen gegen den Krieg sowie eine Militarisierung des Bildungsystems. All dies geschieht vor dem Hintergrund des Krieges und einer großen Zahl von Kriegsverbrechen in den neu besetzten Gebieten, wobei die dramatische Verschlechterung der Lage auf der Krim im Schatten der internationalen Aufmerksamkeit bleibt.

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Gewaltsames Verschwindenlassen und Druck auf Anwälte und Menschen-rechtsverteidiger

Nach der Besetzung von Teilen der Regionen Cherson und Saporischschja wurden Aktivisten und Vertreter lokaler Behörden, die während des groß angelegten Einmarsches Russlands in die Ukraine Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens wurden, auf die besetzte Krim gebracht, wo sie ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten wurden. Einige von ihnen wurden im neu errichteten Untersuchungsgefängnis Nr. 2 in Simferopol inhaftiert. So wurden beispielsweise Serhiy Tsyhipa, Iryna Horobtsova, Ihor Prokotowylo und mindestens 120 weitere Personen, über die Menschenrechtsaktivisten Informationen sammeln konnten, dort festgehalten. Den Inhaftierten wurde der Zugang zu Anwälten verweigert und sie wurden monatelang gefoltert, während die „Behörden“ der Krim nicht offiziell bestätigten, dass sie sich auf der Halbinsel aufhielten. Später wurde gegen einige von ihnen Strafverfahren eingeleitet, und sie wurden zu langen Haftstrafen verurteilt.

Vor dem Hintergrund der groß angelegten russischen Invasion in der Ukraine nahm der Druck auf unabhängige Anwälte und Menschenrechtsverteidiger, die sich für ukrainische und krimtatarische politische Gefangene einsetzten und Informationen über politisch motivierte Verfolgung lieferten, auf der Krim massiv zu. Einige von ihnen wurden durchsucht, festgenommen, mit Geldstrafen belegt und verhaftet – Edem Semedlyayew, Nasim Sheikhmambetov, Ayder Asamatow, Emine Awamilewa, Rustem Kamilew, Abdureshit Dzhepparow, Sair Smedlyayew. Drei Anwälten – Lilya Gemedzhi, Rustem Kamilew und Nasim Sheikhmambetow – wurde der Status zur Ausübung ihrer Anwaltstätigkeit entzogen. Diese Methoden werden angewandt, um Anwälte und Menschenrechtsverteidiger zum Schweigen zu bringen. Aufgrund der dramatischen Zunahme der Menschenrechtsverletzungen auf der besetzten Halbinsel gibt es immer weniger Menschen, die bereit sind, die Betroffenen zu verteidigen.

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Entstehung des Bürgerjournalismus als Antwort auf die Verfolgung von Journalisten

In den 10 Jahren der Besetzung der Krim hat Russland den unabhängigen Journalismus auf der Halbinsel vollständig zerstört. Fast alle Journalisten haben die Halbinsel verlassen, 10 lokale Redaktionen sind in das von der ukrainischen Regierung kontrollierte Gebiet umgezogen, und einige von ihnen arbeiten weiterhin im Exil. Die Webseiten von Medien, die den Besatzungsbehörden kritisch gegenüberstehen, sind auf der Halbinsel blockiert. Angesichts der völligen Abschottung von Informationen übernahmen  Bürgerinnen und Bürger selbst die Rolle der Medien, indem sie über Durchsuchungen, Massenverhaftungen und politisch motivierte Prozesse berichteten, Fotos machten und sie in den sozialen Medien verbreiteten. So entstand das Phänomen des Bürgerjournalismus, das auf der Krim einzigartig ist. Doch auch die Bürgerjournalisten (oder „Journalisten aus dem Volk“) sind der Verfolgung ausgesetzt. Mit Stand vom November 2024 befinden sich 18 Krim-Journalisten im Gefängnis, darunter 4, die nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine inhaftiert wurden: Irina Danylowytsch, Wilen Temerjanow, Rustem Osmanow und Asis Asisow.

In den letzten zweieinhalb Jahren ist die Zahl der politischen Gefangenen auf der Krim – Ukrainer und Krimtataren –, die in Zusammenhang mit der Verfolgung ihres journalistischen, menschenrechtlichen oder bürgerlichen Engagements, ihrer religiösen Ansichten usw. inhaftiert sind, erheblich gestiegen. Mit Stand vom November 2024 sind Menschenrechtsverteidigern mehr als 200 solcher Personen bekannt, die tatsächliche Zahl dürfte jedoch viel höher sein. Die Fälle werden als Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren betrachtet. Als wichtigste Beweise werden anonyme Aussagen (viele von FSB-Offizieren) oder anderer Zeugen heranzogen, die später vor Gericht behaupten, sie hätten unter Druck ausgesagt. Die von der Verteidigung vorgelegten Beweise werden von den Richtern in den meisten Fällen hingegen nicht anerkannt. Etwa 50 politische Gefangene haben gesundheitliche Probleme und erhalten keine angemessene medizinische Versorgung, was zum Tod von zwei von ihnen ,Dzhemil Gafarow und Konstantin Schyring, führte.

Hunderte von Krimbewohnern werden verfolgt und wegen „Diskreditierung der Aktivitäten der russischen Armee“ vor Gericht gestellt. Oft gehen den Prozessen Verhaftungen und erzwungene „Selbstbezichtigungen“ voraus, die auf Video aufgenommen und in sozialen Propagandamedien verbreitet werden. Krimbewohner, die öffentlich zeigen, dass sie mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht einverstanden sind, werden ebenfalls verfolgt. Es gab eine Reihe von Fällen, in denen das Aufführen ukrainischer Lieder auf der Krim mit Geldstrafen und Verhaftungen geahndet wurde.

Systematische Militarisierung der Kinder als Teil des „Entnazifizierungs-plans“

Russlands „Entnazifizierungsplan“ für die Ukraine ist im Wesentlichen ein Plan zur Zerstörung der ukrainischen Nation, und die Bildung spielt in diesem Prozess eine entscheidende Rolle. Am 1. September 2022 wurde angeordnet, dass die Schulen der Krim obligatorische Unterrichtsstunden zu folgenden Themen abhalten müssen: für Schüler der Klassen 1-4 – „Helden der Sonderoperation“; Klassen 5-7 – „Freunde und Feinde der Russischen Föderation“, Klassen 8-9 – „LVR (Luhansker Volksrepublik), DVR (Donezker Volksrepublik), Krim, Cherson sind Russland“. Für die Schüler der Abschlussjahre (Klassen 10-11) wurde eine obligatorische Unterrichtsstunde zum Thema „Es gibt einen Beruf – die Verteidigung des Vaterlandes! Vorteile des Vertragsdienstes in den russischen Streitkräften“ eingeführt, dessen Inhalt alle Merkmale der Rekrutierung in die russischen Streitkräfte aufweist. Schulkinder waren an Aktionen zur Unterstützung der sogenannten Sonderoperation beteiligt: zum Beispiel an der Kampagne „Brief an einen Soldaten“, an der Grundschulkinder im Alter von 6-7 Jahren teilnahmen, und an Treffen mit russischen Militärangehörigen, die an der sogenannten Sonderoperation teilnahmen. Das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Jugend der Krim veröffentlichte Informationen über den Start des Projekts „Alles für den Sieg“. Ziel des Projekts ist es, „Soldaten und Bewohner der ‚Donezker und Luhansker Volksrepubliken‘ zu unterstützen“. Im Rahmen des Projekts sammelten Kinder Gegenstände, die für die Militäreinheiten notwendig sind.

In den Pausen werden den Kindern die Regeln für den Umgang mit Waffen beigebracht, sie spielen Simulationsspiele für militärische Situationen, und es wird viel Wert darauf gelegt, die Kinder zu „wahren Patrioten Russlands“ zu erziehen, die bereit sind, Russland mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Während solcher Trainingslager nehmen die Kinder an einem Kurs für praktisches Schießen, Grundlagen der Taktik und Tarnung, Grundlagen des Minen- und Ingenieurwesens, psychologische Aspekte der Kompatibilität und des Zusammenhalts sowie des Orientierungslaufs im Gelände teil. Der systematische Charakter der Aktivitäten deutet weiterhin auf eine gefährliche Tendenz hin, ukrainische Kinder auf der Krim de facto zu Soldaten auszubilden, die die Grundlagen des Militärdienstes und den Umgang mit Waffen beherrschen.

Die Straflosigkeit muss enden – durch internationales Handeln

Die internationale Gemeinschaft muss handeln, um sicherzustellen, dass Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das Völkerrecht auf der besetzten Krim nicht unbestraft bleiben. Denn die Straflosigkeit des letzten Jahrzehnts ist der Grund dafür, dass die russische Willkür fortbesteht und sich ausbreitet. Es ist wichtig, auf die Situation in den besetzten Gebieten der Ukraine aufmerksam zu machen und gemeinsam gegen die Verurteilung politischer Gefangener in fiktiven Strafverfahren zu protestieren. Um sicherzustellen, dass die Verbrecher nicht unerkannt bleiben, ist es notwendig, weiterhin persönliche Sanktionen gegen die an den Repressionen Beteiligten zu verhängen, darunter FSB-Offiziere, Richter, Ermittler, Staatsanwälte usw. sowie Funktionäre im Bildungswesen, die die Militarisierung umsetzen und die ukrainische Identität vernichten. Die Opfer der politischen Repressionen auf der Krim, ihre Familien und Anwälte sollten sich unterstützt fühlen, Briefe erhalten und wissen, dass sie nicht vergessen sind und dass viele Menschen auf der ganzen Welt, auch in Deutschland, weiter für ihre Freilassung kämpfen. Es lohnt sich weiterhin, ukrainische Menschenrechtsgruppen zu unterstützen, einschließlich lokaler Krim-Initiativen, die Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf der besetzten Krim beobachten und dokumentieren, damit die Weltgemeinschaft von diesen Tatsachen erfahren kann. Denn in den zehn Jahren der Besatzung ist es keiner internationalen Organisation, zu deren Mandat die Überwachung der Einhaltung der Menschenrechte gehört – weder den Vereinten Nationen, noch der OSZE, noch dem Europarat – gelungen, Zugang zur Arbeit auf der besetzten Krim zu erhalten.

Tetyana Petschontschyk ist Leiterin des ZMINA-Menschenrechtszentrums.