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Bulgarien
Bulgarien: Zurück auf Start – Reformerregierung von Petkov gestürzt

Der bulgarische Premierminister Kiril Petkov hält eine Rede vor Anhängern nach dem Misstrauensvotum im bulgarischen Parlament in Sofia, Bulgarien, am 22. Juni 2022.

Der bulgarische Premierminister Kiril Petkov hält eine Rede vor Anhängern nach dem Misstrauensvotum im bulgarischen Parlament in Sofia, Bulgarien, am 22. Juni 2022.

© picture alliance / NurPhoto | Georgi Paleykov

Das Ende hatte sich bereits vor Tagen abgezeichnet – dennoch verdichteten sich im Moment des Sturzes der Regierung von Reform-Ministerpräsident Kiril Petkov die Emotionen Tausender von Anhängern auf dem Parlamentsplatz. Hoffnung, Zuversicht, Bangen zuerst, dann Enttäuschung, Frust und Wut, als klar wurde: Die Mehrheit im Parlament hatten den Ministerpräsidenten per Misstrauensvotum durchfallen lassen. Bulgarien stehen, nachdem bereits 2021 aufgrund von drei aufeinanderfolgenden Wahlen als ein „verlorenes“ Jahr in die Geschichte eingegangen ist, wieder einmal politisch unruhige Zeiten bevor.

Geeinte Opposition stürzt Regierung – Tausende Bulgaren vor dem Parlament werden enttäuscht

Demokratie sei die Staatsform der Selbstbeschränkung und des Konsenses – so hat es der deutsche Historiker Karl Dietrich Bracher einmal klug beschrieben. Slafi Trifonov, ehemaliger Fernsehentertainer, politische „Nervensäge“ und dubioser Parteiführer von Es gibt so ein Volk (ITN), wird die Werke von Bracher wohl nicht gelesen haben, denn er hat Selbstbeschränkung durch Selbstüberhebung ersetzt, als er in der vergangenen Woche die Vierer-Koalition mit fadenscheinigen Gründen verließ und die Reformerregierung von Ministerpräsidenten Kiril Petkov somit den Wölfen zum Fraß vorwarf.

Auch wenn vergangenen Mittwoch bis zur letzten Minute noch die Hoffnung bestand, dass weitere ITN-Abgeordnete als Überläufer die Regierung am Leben erhalten würden, trat am Ende das erhoffte Wunder nicht ein: Kurz nach 19:00 Uhr Ortszeit wurde die Regierung von Petkov, die sich seit der Machtübernahme im Dezember des vergangenen Jahres vor allem die Bekämpfung von State Capture und chronischer Korruption auf die Fahnen geschrieben hatte, mit den Stimmen der geeinten Opposition gestürzt: 115 Abgeordnete votierten für die Regierung, 124 dagegen, und um dieses Ergebnis zu erzielen, haben die Altparteien GERB und MRF nicht davor zurückgeschreckt, gemeinsame Sache mit den extremen Nationalisten vom rechten Rand zu machen, die in Bulgarien obendrein dem russischen Präsidenten Putin huldigen.

Nun geht wieder ein Gespenst um in Bulgarien – das Gespenst erneuter Wahlen. Falls in den kommenden Wochen keine mehrheitsfähige Regierung gebildet werden kann, müssen die Bulgaren wohl bereits im September wieder an die Urnen – zum vierten Mal innerhalb von eineinhalb Jahren.

Petkov verliert – und zeigt sich kämpferisch

„Dieses Misstrauensvotum ist ein kleiner Schritt auf dem langen Weg zum Ziel, das Land zurückzugewinnen. Nichts kann uns aufhalten, weil wir zusammen sind. Ihr seid der Garant dafür, dass dieses Land nach den nächsten Wahlen anders aussehen wird.“ Mit diesen Worten bedankte sich Petkov bei seinen Anhängern, die sich seit Tagen in Scharen vor dem Parlamentsgebäude versammelt hatten, um einerseits die Regierung zu unterstützen, aber andererseits die Opposition den nötigen Druck spüren zu lassen – einige Abgeordnete, so zum Beispiel der mit Magnitsky-Sanktionen belegte Oligarch und Medienmogul Peevski von der MRF konnten nur unter Polizeischutz das Parlamentsgebäude betreten.

Bulgarien
© FNF Bulgarien

Wahlen ante portas

Falls Noch-Ministerpräsident Petkov in den kommenden Wochen nicht noch weitere ITN-Überläufer für sich gewinnen kann, wird in der zweiten Runde Präsident Radev die zweitgrößte Fraktion GERB, mit der Regierungsbildung beauftragen. Damit könnte Alt-Ministerpräsident Borissov sein Comeback feiern.

Doch eine Mehrheit der Opposition zur Abwahl Petkovs wird sich schwer in eine Mehrheit zum Regieren überführen lassen – „Ausschließeritis“ ist eine weitverbreitete politische Krankheit in Bulgarien. Falls auch in der dritten Runde keine Regierung zustande kommt, wird gewählt – mit ungewissem Ausgang. Umfragen zufolge wird die Ultrarechte Vazrazhdane, dessen Parteiführer wohl zu den größten Putin-Fans unter Gottes Sonne gehört, deutlich zulegen.

Krise in Sofia hat Konsequenzen in Brüssel und Skopje

Die politische Krise in Bulgarien verheißt auch nichts Gutes für den anstehenden EU-Gipfel – die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit dem Nachbarland Nordmazedonien, das schon seit 2005 Beitrittskandidat ist, aber immer wieder von unterschiedlichen Seiten blockiert wird, könnte auch diesmal scheitern. Borrissovs Vorgängerregierungen und Präsident Radev verhinderten seit Jahren mit zum Teil haarsträubenden Forderungen die Aufnahme der Verhandlungen mit Skopje – die Infragestellung dieser Position grenzte bei den meisten bulgarischen Parteien fast an Blasphemie oder Staatsbeleidigung.

Petkov hingegen versuchte während seiner kurzen Amtszeit eine vorsichtige Annäherung in den sprachlich-kulturellen Streitfragen mit Skopje – wohlwissend, dass er damit auch die Zukunft seiner Regierung riskieren könnte. Vor einigen Wochen ist Frankreich, das die Ratspräsidentschaft noch bis Ende Juni innehat, mit einem Vorschlag vorgeprescht, um die Blockade aufzuheben. Demnach sollen die Bulgaren und Bulgarinnen als eine der konstituierenden Volksgruppen, die den Staat bilden, in die nordmazedonische Verfassung aufgenommen werden. Für eine solche Verfassungsänderung bedarf es jedoch einer Zweidrittelmehrheit im nordmazedonischen Parlament, die es im Moment einfach nicht gibt.

Zukunft: ungewiss

Das Misstrauensvotum hat eine reformorientierte Regierung zu Sturz gebracht, die in ihrem kurzen Bestehen trotz aller Schwierigkeiten und Unterschiede zwischen den Koalitionsparteien versucht hat, das Land voranzubringen, die chronische Korruption zu bekämpfen, die mafiosen Strukturen vor allem im Justizapparat aufzubrechen und die Streitfragen mit dem Nachbarland Nordmazedonien beizulegen. Die Oppositionsparteien hingegen haben sich klar obstruktiv verhalten, meinen liberale Beobachter aus dem Reformerlager. Für sie ist es ein Zivilisationsbruch, dass die Altparteien eine Reformregierung mithilfe von Rechtsextremen gestürzt haben.  

Regierungskrise in Bulgarien – Reformerregierung vor dem Ende?

Der bulgarische Premierminister Kiril Petkov

Bulgariens Regierung steht vor dem Aus: Der Parteivorsitzende von ITN, Slafi Trifonov, gab überraschend bekannt, dass seine Partei aus der Vierer-Koalition austreten werde. Trifonov warf Ministerpräsident Kiril Petkov vor, im Konflikt mit Nordmazedonien eine eigene Agenda zu verfolgen. Es besteht die Gefahr, dass die alten Kräfte, die das Land über Jahrzehnte wie einen Selbstbedienungsladen ausgeplündert haben, wieder an die Macht gelangen.

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