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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Corona
Deutschland braucht Differenzierung!

Die große Welle der Infektionen ebbt langsam ab. Zurück bleibt wieder einmal eine zerklüftete Topografie.

Gelegentlich haben politische Debatten hierzulande satirische Züge. So auch derzeit: Die emotionsgeladene Corona-Kontroverse um die Grundrechte der Geimpften findet zu einem Zeitpunkt statt, in dem es noch massiv an Impfstoff mangelt und das diskutierte Problem bestenfalls ein Randthema sein sollte. Es wird noch Monate dauern, bis sich die ethischen Grundfragen der Kontroverse in der Praxis überhaupt ernsthaft stellen.

Ganz anders dagegen sieht es beim Lockdown selbst aus. Er wirkt, und es ist eine Frage von Tagen, wann und vor allem wie Lockerungen kommen müssen, will man der Philosophie der rechtstaatlichen Verhältnismäßigkeit der Beschränkung von Freiheitsrechten weiter folgen. Klar ist: Für prominente Virologen ist jede Öffnung von Schaden und die komplette Fortsetzung des Lockdowns der optimale Weg. Aber das ist fast eine triviale Empfehlung – ohne Rücksicht auf individuelle Grundrechte und rechtsstaatliche Grundsätze, legitim allenfalls als eng fachlich dominierter Rat, den die Politik zur Kenntnis nimmt, aber dem sie nicht folgen kann und darf.

Was also ist in Kürze zu tun? Um der Klarheit der Sache willen unterscheiden wir zwischen Zeit und Raum. In beiderlei Hinsicht brauchen wir differenzierte Lösungen. Solange nämlich Deutschland wie noch vor drei Monaten von einer gewaltigen Flutwelle der Infektionen bedroht war, ließen sich einheitliche (und strikte!) Lockdown-Regeln als hohe Dämme gegen die nahende Katastrophe rechtfertigen. Im Abebben der Infektionswelle rückt dagegen die zerklüftete Topografie der Inzidenz in den Vordergrund: mit einem altbekannten Süd/Nord-Gefälle, aber mit immer mehr gewaltigen Unterschieden auf vergleichsweise kleinen Räumen.

7-Tage-Inzidenz vom RKI
Die Karte des Robert-Koch-Institutes mit der 7-Tage-Inzidenz verdeutlicht, wie dringend eine Differenzierung nötig ist. © RKI | Esri, FAO, NOAA

Kein Zufall ist deshalb, dass es Schleswig-Holstein, das Flächenland mit der niedrigsten Inzidenz, als erstes mit einem zeitlichen Stufenplan der Öffnung an die Öffentlichkeit wagte. Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) und sein Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP) präsentierten bereits Ende Januar einen „Perspektivplan“, der – abhängig vom erreichten Unterschreiten von Schwellenwerten der Inzidenz – bestimmte Öffnungen in Aussicht stellt, eine Art „Wenn-Dann-Szenario“. Das ist im Kern richtig, und zwar nicht nur inhaltlich, sondern auch politisch: Selbst wenn der Plan sich im Einzelnen noch in der Praxis ändern mag, schafft er, wie der Name sagt, für die Menschen eine nachvollziehbare „Perspektive“. Andere Länder sollten diesem Beispiel folgen.

Noch größer ist allerdings die Herausforderung in räumlicher Hinsicht. Ein Blick auf die aktuelle Sieben-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner öffnet dabei die Augen. Sie reicht über alle Landkreise und Städte von den extrem stark betroffenen Landkreisen Tirchenreuth (363,7) und Hof (337,5) bis zu Zweibrücken (11,7) und Emden (16,0) am unteren Rand. Das ist eine gewaltige Streuung, die natürlich nach regional differenzierten Lösungen ruft – rechtlich, ökonomisch und gesundheitspolitisch. So wäre es auf Dauer niemals zu rechtfertigen, wenn die Grundrechte in Zweibrücken und Emden genauso beschränkt würden wie in Tirchenreuth und Hof. Auch ökonomisch wäre dies Unsinn: Warum sollten alle Einzelhändler, Friseure, Kinos, Kosmetiksalons und Restaurants überall auf Umsatz verzichten müssen, wenn dies in vielen einzelnen Regionen wie Zweibrücken und Enden nach den Kernindikatoren gar nicht nötig ist? Ein Arbeitstag in Deutschland ist rund 10 Mrd. Euro an Bruttoinlandsprodukt wert; und man sollte möglichst vielen Dienstleistern wieder erlauben, ihren Beitrag dazu zu leisten und nicht auf Transfers des Staates angewiesen zu sein – ganz abgesehen von der Wahrung ihres Rechts auf Ausübung ihrer Gewerbefreiheit.

Bleibt die Gesundheitspolitik: Hier gibt es natürlich ein Restrisiko, dass die Differenzierung schließlich doch zum Überschwappen von Infektionswellen zwischen Regionen führt – durch die Mobilität der Menschen. Dies müssen Politik und Gesundheitsverwaltung im Auge behalten, u. a. durch Beibehaltung der Maskenpflicht und Abstandsregeln sowie Vorsichtsmaßnahmen der Registrierung, die im Nachhinein ein Tracing der Infektionswege besser ermöglicht, als dies bisher der Fall war. Aber eines ist klar: Ganz auszuschießen wird der Transfer des Virus zwischen Regionen nicht sein. Die Politik muss sich also stets ein evidenzbasiertes Eingreifen im Notfall vorbehalten, auch in derzeit (fast) infektionsfreien Regionen wie Zweibrücken und Emden.

Mit diesen Vorsichtsmaßnahmen  sollte ein vernünftiger Weg in Richtung Normalität möglich sein. Bleibt die Frage: Was geschieht, sollten die Mutationen aus Großbritannien und Südafrika auch in Deutschland Überhand nehmen? Die Antwort muss derzeit offenbleiben. Aber solange es dafür an Evidenz fehlt, lässt sich auch keine Eventualplanung umreißen – auch nicht mit Angst- und Horrorszenarien, die wir sie in Deutschland so lieben. In dieser Hinsicht gilt es: auf Sicht fahren. Aber eben fahren und nicht auf Dauer im Lockdown verharren.