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Liberalismus
"Liberalismus braucht die Demokratie"

Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama im Interview mit Alexander Görlach
Francis Fukuyama

Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama

© picture alliance/dpa | Horst Galuschka

Alexander Görlach: Wir haben uns vor Ausbruch der Pandemie zuletzt auf einer Konferenz in Warschau getroffen und über den Zustand der Welt diskutiert. Viel ist in der Zwischenzeit passiert. Wo stehen wir heute nach zweieinhalb Jahren Covid-19?
Francis Fukuyama: Alles in allem muss ich sagen, dass die Pandemie weniger ins Wanken gebracht hat, als ich gedacht habe. Der Krieg gegen die Ukraine wird meiner Meinung nach länger nachwirken und drastischere Konsequenzen nach sich ziehen.

Haben sich Demokratien oder Diktaturen in der Pandemie besser geschlagen?
Das lässt sich so pauschal nicht sagen: China hatte den schrecklichen Ausbruch in Wuhan, dann war die Situation eine Weile stabil, nun ist sie wieder außer Kontrolle. Deutschland hat sich zuerst gut geschlagen, dann kam die zweite Welle. Ein solches vor und zurück gab es überall auf der Welt, unabhängig vom jeweiligen Regierungssystem. 

Was war ihrer Meinung nach entscheidend, um gut durch die Pandemie zu kommen?
Vor allem, ob ein Land ein gutes Gesundheitssystem hatte und eine politische Führung die Willens war, auf die Menschen, die dort arbeiten, zu hören. Die Trump-Regierung hatte daran kein Interesse. Das wichtigste jedoch war: Vertrauen in die Regierung von Seiten der Bevölkerung und Vertrauen in die Bevölkerung von Seiten der Politik. Das ist in den USA nicht überall gegeben. In den von den Republikanern geführten Bundesstaaten gab es Opposition gegen das Maskentragen. Zudem wurden Zweifel gestreut, ob Impfungen überhaupt etwas bringen. 

Haben Ihre Erfahrungen in den USA in der Pandemie dazu geführt, dass sie jetzt ein Buch geschrieben haben “Der Liberalismus und seine Feinde”?
Der Grund dafür ist in der Tat der Aufstieg von Populisten und Nationalisten überall auf der Welt, von Indien bis Brasilien. Die Führer in diesen Ländern verklären in einer nationalistischen Nostalgie die Vergangenheit. Sie mögen keine Einwanderung, sie verpflichten sich einer bestimmten Religion. Und sie stehen dem Liberalismus feindlich gegenüber, was heißt, dass sie nichts davon halten, dass die Menschen ihr Leben selbst gestalten können. 

Was zu gespaltenen Gesellschaften überall auf der Welt geführt hat.
Anders als der alte Krieg ist das kein Konflikt zwischen Staaten, sondern findet innerhalb von Nationen statt, auch in den USA und Indien, den beiden größten Demokratien der Welt.

Vielerorts in der demokratischen Welt ist das Misstrauen zwischen den Lagern so groß, dass man sich noch nicht einmal mehr über einfache Fakten einig werden kann, wie etwa, dass es Viren gibt.
Der an der NYU lehrende Sozialforscher Jonathan Haidt hat herausgefunden, woran das liegt: Wir gehen fehl in der Annahme, dass Menschen zuerst auf die Welt schauen, dort Dinge beobachten und sich daraufhin eine Meinung und ein Urteil bilden. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wir haben eine Meinung, die die Grundlage dessen bildet, was wir in der Welt wahrnehmen. Was immer unsere vorgefertigte Meinung stützt, sehen wir als wahr an. 

Liegt der Grund hierfür Ihrer Meinung nach in fehlender Bildung?
Nein. Es gibt Konservative in den USA, die zwar auf das College gegangen sind, aber dennoch nicht an die Effektivität von Impfstoffen glauben. Das Internet verschärft die Situation noch dahingehen, dass es völlig parallele Informations-Universen hervorbringt, in denen sich Menschen durchgängig aufhalten und deren Inhalt auf so genannten “alternativen Fakten” beruht. Deswegen ist es möglich, dass ein Drittel der Amerikaner glauben kann, dass Joe Biden die letzte Präsidentschaftswahl nicht gewonnen hat. 

Was heißt für Sie Liberalismus?
Im Kern besagt er, dass wir als Gesellschaften die so genannten großen Fragen nach Gott und Sinn nicht politisch beantworten, sondern jeder und jedem diese Möglichkeit privat überlassen. Liberale Gesellschaften begegnen der Vielzahl von Antworten mit Toleranz. Liberalismus bedeutet auch, dass Menschen in die Lage versetzt sind, Entscheidungen für und über ihr Leben selbst zu treffen, also nicht aufgrund von Herkunft oder Geschlecht zu einer bestimmten Lebensform gezwungen werden dürfen. In liberalen Demokratien werden diese Überzeugungen rechtlich kodiert und durch Wahlen und von Institutionen geschützt. 


Das sind bürgerlichen Rechte, die sie ansprechen. Wie steht es um die soziale Komponente des Liberalismus? Nur beide zusammen, so sagt es der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf, verbriefen die Achtung der Menschenwürde in einem liberalen Gemeinwesen.
Liberalismus bedeutet auch das Recht auf Eigentum und Institutionen wie die Gerichte, die dieses Eigentumsrecht garantieren. Wo es solche Garantien gibt, sprechen wir von einem Rechtsstaat.

Warum erleben wir gerade jetzt ein neues Aufbäumen anti-liberaler Kräfte?
In den vergangenen dreißig Jahren hat sich durch die Globalisierung in den reichen Nationen ein Spalt aufgetan zwischen der Arbeiterklasse und denen, die besser ausgebildet sind. Die Arbeiterklasse sieht sich als Verlierer der Globalisierung, genauso wie Menschen, die im ländlichen Raum leben. Dies führt zu einer Ausprägung verschiedener Werte, was sich vor allem in der Ablehnung von Einwanderung zeigt, die für viele, die sich als benachteiligt betrachten, Ursache ihrer Situation ist. 

Ablehnung von Zuwanderung ist kein neues Phänomen. Gibt es etwas an der Globalisierung, was die aktuelle Entwicklung losgetreten oder begünstigt hat?
In der globalisierten Welt sind auf einmal Fähigkeiten gefragt, die in der Vergangenheit weder Prestige noch viel Geld einbrachten. Wer in der Schule gut in Mathe war, konnte in der Vergangenheit auf einen soliden Job in der Buchhaltung hoffen. Heute werden Leute, die gut in Mathe sind, Programmierer oder gehen zu den großen Banken und verdienen hundert Mal so viel wie ihre einstigen Klassenkameraden, die schlecht in Mathe waren. Überhaupt gilt heute: Kognitive Fähigkeiten sind wichtiger als physische Stärke. Das hat überall auf der Welt dazu geführt, dass Frauen in der Arbeitswelt eine größere Rolle spielen als in der Vergangenheit.

Die nationalistischen, populistischen Bewegungen, von denen sie sprechen, propagieren allesamt ein altes, patriarchalisches Frauenbild.
Frauen haben nicht nur begonnen zu arbeiten, sie sind in vielem auch besser als die Männer. So schließen mehr Frauen als Männer ein Studium ab. Da Hirn wichtiger ist als Muskeln, übernehmen heute Frauen alle Arten von Jobs, von denen Männer glaubten, dass sie ihnen vorbehalten seien. Diese Entwicklung beunruhigt sie, denn Frauen unterminieren in dieser Weltsicht die Aufgabe des Mannes und seine soziale Rolle als Ernährer des Haushalts. 

Bedeutet das nicht, dass der weltweit spürbare Widerstand gegen die Globalisierung in Wahrheit das Ende des Patriarchats einläutet?
Ja, das ist der Fall. Der populistische Backlash ist in großen Teilen ein Aufbegehren des Patriarchats, sein Ende abzuwehren. Dass heute immer noch viele der Top-Führungspositionen von Männern begleitet werden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Siegeszug der Frauen unumkehrbar ist. Der Hass, der Hillary Clinton entgegenschlug, ist in großen Teilen dem Unbehagen geschuldet, das Männer, vor allem solche, die über wenige berufliche Skills verfügen, gegenüber erfolgreichen Frauen empfinden. Ihre Wut ist auch ein Grund für den Erfolg von Donald Trump.

Nicht nur “weiße alten Männer” sind auf der Zinne. Ihre Wut vereint sie mit Männern in Indien, Ungarn und Brasilien.
Absolut richtig. Und die Akteure, die diese Wut anheizen, haben sich mittlerweile zu antidemokratischen Allianzen zusammengeschlossen. Putin unterstützt beispielsweise Venezuela und den Iran militärisch, im Cyber-Raum und durch Hilfsleistungen. Diese Länder haben nicht viel gemein, außer dass sie keine Demokratien sind. Sie sind ausschließlich durch ihre Ablehnung von Freiheit und Demokratie miteinander verbunden. 

In ihrer Analyse der Krise liberalen Demokratie schauen sie nicht nur auf äußere Feinde, sondern auch in das Innere. An welcher Stelle hat der Liberalismus überdreht und sich Gegner in eigentlich liberalen Gesellschaften gemacht?
Den ersten, den ökonomischen Punkt, haben wir ja bereits angeschnitten: Privatisierung, de-Regulierung, Rückzug des Staates als Kennzeichen des Wechsels von liberalen zu neo-liberalen Wirtschaften haben vielen Menschen Nachteile gebracht, weswegen sie sich vom Liberalismus abgewendet haben. Das Gute hier ist, wenn Sie so wollen, dass einiges dieser neo-liberalem Politik bereits wieder rückgängig gemacht wird. Demokratien zeigen also auch an diesem Beispiel, dass sie zu Kurskorrektur und Veränderung fähig sind.

Sie nennen den Neo-Liberalismus in Ihrem Buch eine “Deformierung des Liberalismus”.
Ja, und eine weitere “Deformierung” ist die Entwicklung der Identitätspolitik. Im linken Spektrum kam der Gedanke auf, Menschen nicht als Individuen zu sehen, sondern sie als Glieder von Gruppen, denen sie aufgrund bestimmter Merkmale wie Ethnie angehören, zu klassifizieren. Das führte zu einer Gegenentwicklung im rechten Spektrum, wo man sich als weiße Person als Opfer, als belagerte Minderheit zu sehen begann. Das ist natürlich weitestgehend Unsinn. Was man aber sagen kann, ist, dass Identitätspolitik jeder Gruppe einen Rahmen gab, die eigene Situation herauszustellen: Ich bin das Opfer anderer Gruppen, die danach trachten, meine Gruppe zu marginalisieren.

Wenn ich Sie richtig verstehe, dann liegt der Grund der Krise der Demokratie nicht zuerst in fehlenden Beteiligungsmechanismen oder mangelnder Repräsentation. Um unsere liberalen Gemeinwesen zu renovieren, müssen wir zuerst unser Wirtschaftssystem re-liberalisieren, weg vom neo-liberalem Irrweg?
Ja, aber falsche Wirtschaftspolitik lässt sich schneller umkehren als eine Identitätspolitik, die verhärtete Fronten zwischen Menschen geschaffen hat. Hier sind fundamentale Rechte von Leuten betroffen, eine Lösung ist also nicht einfach so nach dem Motto “Wir sind alle gleich, aber dann doch nicht ganz”.

Um noch einen Moment bei ihrer Wirtschaftskritik zu bleiben: Die Volksrepublik ist in ihrer ökonomischen Ausrichtung den USA gefolgt, mit dem Ergebnis, dass Ungleichheit und Vermögensverteilung heute in beiden Ländern fast gleich ist. Beide Staaten haben zwei völlig verschiedene politische Systeme. Verdeutlicht das nicht umso mehr, dass Neo-Liberalismus Gesellschaften zerstört, ganz gleich, ob es demokratische oder autokratische sind?
Der Kapitalismus in der Volksrepublik ist nicht neo-liberal, sondern interventionistisch. Die Kommunistische Partei glaubt nicht daran, dass der Staat eine kleine oder gar keine Rolle in der Wirtschaft spielen sollte. Derzeit erleben wir ja das genaue Gegenteil. Generell kann man sagen: Kapitalismus, der nicht an Demokratie gebunden ist, kann groteske Ungleichheit produzieren. Deshalb glaube ich nicht, dass Liberalismus für sich allein funktioniert. Liberalismus braucht die Demokratie, um ein legitimes System der Rückverteilung aufzubauen. 

Das klingt nach sozialer Marktwirtschaft.
Genau, Kontinental-Europa hat ein solches Modell. Auch dort ist in jedem Land die Ungleichheit in der jüngeren Vergangenheit größer geworden, aber bei Weitem nicht in einem Ausmaß wie in den Vereinigten Staaten. 

Wie liberal ist denn unsere internationale Ordnung noch? Wir haben China angesprochen. Machthaber Xi Jinping hat immer wieder klar gemacht, dass er die Spielregeln der Welt ändern will. Der Verweis auf die Unantastbarkeit der nationalen Souveränität scheint der einzig verbliebene Wert aus der Charta der Vereinten Nationen, auf den man sich noch einigen kann?
Daran, dass die Volksrepublik Souveränität verteidigt, sehen sie, dass es sich dabei nicht um einen liberalen Wert per se handelt. Häufig dient der Verweis auf die Souveränität dazu, nationalistische Ziele zu verwirklichen und sich Einmischung von außen zu verbieten.

Genau das tut Peking im Hinblick auf Taiwan. China will die Inseldemokratie erobern, weil Xi, wie Putin gegenüber der Ukraine behauptet, dass Taiwan Teil seines Landes sei. In Wahrheit hat die KP niemals über Taiwan geherrscht, vielmehr liegt der Inselstaat heute im weltweiten Demokratie-Index des Magazins The Economist auf Platz 8. Die USA liegen im Vergleich abgeschlagen auf Platz 26. Wird Washington dem demokratischen Freund zu Hilfe kommen, wenn Peking Taipei angreift?
Xi hat es sich zu einer Lebensaufgabe gemacht, Taiwan, wie er sagt, mit China “wieder zu vereinigen”. Es steht nicht zu erwarten, dass dies auf friedliche Weise geschieht, denn die Taiwaner möchten das nicht. Um das Ziel der Annexion des Landes zu erreichen, wird Peking nicht umhinkommen, auch die US-Stellungen im Pazifik anzugreifen. Dann werden die Vereinigten Staaten Kriegspartei.

Xi und Putin begründen ihren Kampf gegen die freie Welt mit der Behauptung, dass der Westen Demokratie und Menschenrechte nutze, um den Rest der Welt ein weiteres Mal zu kolonialisieren. Sie sagen, dass es keine universellen Werte und Rechte gäbe, was überspitzt so viel bedeutet wie, dass es in China ok sei zu foltern oder einen Genozid zu begehen, weil das mit chinesischen “Werten” überein ginge.
Ich glaube, dass man auf der Grundlage universeller, menschlicher und moralischer Wahrheit mit Recht behaupten kann, dass alle Menschen ein Mindestmaß an Freiheit haben, dass sie respektiert und fair behandelt werden möchten. Was leider nicht universell ist, sind die Mechanismen und Institutionen, die diese Rechte garantieren, zum Beispiel eine unabhängige Gerichtsbarkeit. Es gilt für die Verbreitung dieser Institutionen zu kämpfen, weil es keinen Automatismus gibt, der sie hervorbringt.