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Armenien
Absolute Mehrheit für Block des „samtenen Revolutionärs“

Bündnis von Nikol Paschinjan gewinnt Parlamentswahlen in Armenien

Erwartungsgemäß hat das Bündnis des Anführers der „samtenen Revolution“ Nikol Paschinjan bei den Parlamentswahlen am 9. Dezember die Mehrheit gewonnen. Nach Angaben der zentralen Wahlkommission des Landes erreichte sein Bündnis „My Step“ 70 Prozent der Stimmen. Weiterhin im Parlament vertreten sein werden die Partei „Prosperous Armenia“ mit 8,3 Prozent sowie der Partner der Stiftung für die Freiheit, die liberale Partei „Bright Armenia“ mit 6,4 Prozent. Die ehemalige Regierungspartei scheiterte an der Fünf-Prozent-Hürde und wird künftig nicht mehr im Parlament vertreten sein. Die Wahlbeteiligung lag bei 48,6 Prozent und damit rund zwölf Prozent niedriger als bei den letzten Parlamentswahlen im April 2017. Freiheit.org sprach mit dem Projektleiter der Stiftung für die Freiheit im Südkaukasus, Peter-Andreas Bochmann, über den Ausgang der Wahlen zur Nationalversammlung in Armenien.

Ist das Wahlergebnis eine Überraschung?

Nein, dieses Ergebnis ist nicht wirklich überraschend, ein hoher Wahlsieg hat sich abgezeichnet. Bei den Bürgermeisterwahlen in Eriwan vor einigen Wochen erreichte Paschinjans Wahlblock 81 Prozent der Stimmen. Auch wenn seine Umfragewerte etwas schwächer wurden, konnte man davon ausgehen, dass er und seine Anhänger – vereinigt im Wahlblock „My Step“ – mit großer Mehrheit ins Parlament einziehen würden. 

Euphorie, große Erwartungen und große Zustimmung für Paschinjan - wie erklärt sich dann die niedrige Wahlbeteiligung?

Darüber gibt es viele Spekulationen. Vom schlechten Wetter bis hin zum absehbaren Sieg von „My Step“ – dies könnten durchaus Gründe dafür sein, dass viele zuhause geblieben sind. Es darf aber auch nicht vergessen werden, dass Wahlen in Armenien noch nie so richtig frei und fair waren. Stimmenkauf und Wahlbetrug kennzeichneten den Verlauf früherer Wahlen. Dieses Mal gab es erstmals kein Geld für das Kreuz an der „richtigen“ Stelle. 

Unabhängige Schätzungen sagen, dass sich gerade noch zwischen 1,5 und 1,8 Millionen Armenier im Land befinden. Offiziell gibt es aber 2,6 Millionen Wahlberechtigte. Da stellt sich natürlich die Frage, ob die Wählerlisten korrekt sind. In ihnen sollen sich viele „Karteileichen“ befinden – teilweise im wahrsten Sinne des Wortes, teilweise befinden sich dort Einträge von Wahlberechtigten, die im Ausland wohnen. Ein „Stimmenpotential“ von dem früher allein die damalige Regierungspartei kräftig profitierte, indem sie Manipulationen ermöglichte. Innerhalb eines neuen Wahlgesetzes, das zu den von Panschinjans angekündigten Hauptzielen gehört und im Frühjahr des kommenden Jahres vorliegen soll, wird dies korrigiert werden müssen. Auch hat das gemeinsame und kontrollierte Abstimmen von Staatsbediensteten, die früher teilweise durch Wahllokale rotierten, hat nicht mehr stattgefunden. 

Wie bewerten Sie die künftige Zusammensetzung des Parlaments?

Zunächst freue ich mich sehr für unsere liberalen Freunde und Partner von der Partei „Bright Armenia“, die mit 6,4 Prozent im Parlament vertreten sein werden. Es ist schon ein wenig kurios, dass sie im letzten Parlament noch im Bündnis YELK – gemeinsam mit Paschinjans Partei „Civil Contract“ – im Parlament saßen und ihnen künftig – gemeinsam mit „Prosperous Armenia“ – eine Oppositionsrolle zugeschrieben sein wird. 

Eine Besonderheit in der armenischen Gesetzgebung ist, dass ein Drittel der Parlamentssitze an die Opposition gehen muss: Keine Partei darf über mehr als Zweidrittel der Stimmen im Parlament verfügen. Damit reduzieren sich auch die 70 Prozent von „My Step“ auf 66. Trotzdem birgt diese Mehrheit auch Gefahren, wie wir im Nachbarland Georgien sehen. Es bleibt zu hoffen, dass die Wahlsieger mit ihrer Mehrheit verantwortungsvoll umgehen. Andererseits ist der Weg jetzt frei für alle angekündigten Veränderungen. Bisher hatte Paschinjan zwar die Straße hinter sich, in der Nationalversammlung verfügte das Bündnis YELK allerdings nur über 9 von 105 Sitzen. Als Interimsministerpräsident einer Minderheitsregierung war da nicht viel möglich. 

Dass die ehemalige regierende Republikanische Partei Armeniens den Einzug ins Parlament nicht schaffte, überrascht mich. Der Absturz von einer absoluten Mehrheit mit 58 auf nun null Mandate ist bitter. Einige politische Experten sind der Meinung, es wäre besser gewesen, wenn sie im Parlament eine Oppositionsrolle übernommen hätten. Auch wird die Armenische Revolutionäre Föderation (Daschnaken) nicht mehr im Parlament vertreten sein. Die Partei versteht sich traditionell als Interessenvertretung der großen armenischen Diaspora und ist im Karabach-Konflikt eindeutig positioniert. Das Fehlen dieser politischen Kraft im Parlament könnte innenpolitisch problematisch werden.

Wie wird der außenpolitische Kurs des Landes künftig aussehen?

Eine der ersten Reisen nach der samtenen Revolution führte Paschinjan nach Moskau. Sicher auch um dort Befürchtungen einer Kursänderung des Landes entgegenzutreten. Moskau hatte sich während der Massenproteste im Land erstaunlich passiv verhalten. Am außenpolitischen Kurs des Landes wird es keine grundlegende Änderung geben. Russland als Sicherheitsgarant Armeniens im – vorsichtig ausgedrückt – angespannten Verhältnis zu Aserbaidschan lässt ihm auch gar keine andere Wahl. 

Nikol Paschinjan will sich um bessere Beziehungen zu Europa und den USA bemühen. Eine Nato-Mitgliedschaft strebe er nicht an, es werde bei partnerschaftlichen Beziehungen beispielsweise in Friedensmissionen bleiben. Auch wird die Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion eine Priorität für ihn bleiben. Die Zukunft wird zeigen, wie ihm dieser Spagat gelingen wird.

Ausgestattet mit einer großen parlamentarischen Mehrheit, was sind die dringendsten Aufgaben des zukünftigen Ministerpräsidenten?

Eine weitere Korruptionsbekämpfung auf rechtsstaatlichen Grundlagen und umfassende wirtschaftliche und soziale Reformen sollten schnell angegangen werden. Die Hoffnungen sind groß, vielleicht zu groß, um sie in kurzer Zeit erfüllen zu können. Die Bevölkerung erwartet die Erfüllung seiner Versprechen und die Umsetzung der angekündigten Reformpläne. Hohe Arbeitslosigkeit, die äußerst schwierigen soziale Situation großer Teile der Bevölkerung, Hoffnungslosigkeit und die damit verbundene Abwanderung überwiegend junger Armenier – dies alles waren auch Gründe der Massenproteste, verbunden mit der Forderung „Sersch muss weg“, die die Demonstranten unterschiedlichster Couleur geeint hatte. 

Die alte politische Elite ist jetzt abgewählt. Nach vielen Jahren der Stagnation sind die Ungeduld und die Hoffnung auf grundlegende Veränderungen groß. Ja, es sind große Herausforderungen, vor denen die künftige Regierung eines dann gewählten Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan steht. Paschinjan selbst sprach von einer „revolutionären Mehrheit der Bürger“, die ins Parlament einziehen werde. Wenn seinen Worten keine spürbaren Taten folgen, könnten sich schnell wieder Tausende auf den Straßen einfinden, die dann gegen ihren neuen Ministerpräsidenten und IHRE „revolutionäre Mehrheit“ im Parlament demonstrieren. Die Bevölkerung hat gemerkt, dass sie die Kraft hat, etwas zu verändern. Dies ist für mich der größte Erfolg der so genannten „samtenen Revolution“.