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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

20. Juli 1944
Der Mut zur Tat

Nicht in ihren Irrtümern, wohl aber in ihrer Bereitschaft, ihr Leben im Kampf gegen das Unrecht zu opfern, sind und bleiben die Offiziere des 20. Juli Vorbilder.
Reichsmarschall Hermann Göring (helle Uniform) und der Chef der «Kanzlei des Führers», Martin Bormann (l.), begutachten die Zerstörung im Raum der Karten-Baracke im Führerhauptquartier Rastenburg, wo Oberst Stauffenberg am 20. Juli 1944 eine Sprengladung zündete, mit der Absicht Hitler zu töten

Reichsmarschall Hermann Göring (helle Uniform) und der Chef der «Kanzlei des Führers», Martin Bormann (l.), begutachten die Zerstörung im Raum der Karten-Baracke im Führerhauptquartier Rastenburg, wo Oberst Stauffenberg am 20. Juli 1944 eine Sprengladung zündete, mit der Absicht Hitler zu töten.

© picture alliance / dpa | Hoffmann

Drei Tage vor dem 80. Jahrestag des Attentats auf Adolf Hitler fand in Schloss Steinort in der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren (im ehemaligen Ostpreußen) ein Gedenken an die damaligen Ereignisse statt, veranstaltet durch das Deutsche Generalkonsulat in Danzig, die Lehndorff-Gesellschaft-Steinort e. V., die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit sowie die Konrad-Adenauer-Stiftung. Heinrich Graf von Lehndorff-Steinort, der letzte Eigentümer des Schlosses zum Zeitpunkt des 20. Juli 1944, gehörte zum Kreis der Verschwörer und wurde nach dem gescheiterten Attentat am 4. September 1944 in Plötzensee hingerichtet.

Aus Anlass des ehrenden Gedenkens an Heinrich Graf von Lehndorff-Steinort und seine Mitverschwörer hielt Karl-Heinz Paqué, Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, die folgende Rede.

Vor 80 Jahren

Am 20. Juli 1944, um 12.43 Uhr, detonierte die Bombe in Stauffenbergs Tasche im Führerhauptquartier in der Wolfsschanze. Gegen 16.30 Uhr landete Stauffenberg in Berlin. Erst danach gingen die Befehle für den Staatsstreich heraus – viel zu spät, um das „Unternehmen Walküre“ noch erfolgreich durchführen zu können. Bereits nach wenigen Stunden zeichnete sich das Scheitern ab - bis hin zur Hinrichtung von Stauffenberg, Haeften, Olbricht und Quirnheim kurz nach Mitternacht im Hof des Bendlerblocks in Berlin. Es folgten Verhaftungen. Es folgten die Schauprozesse gegen die „Clique ehrgeiziger Offiziere“, wie sie Hitler nannte. Es folgten Hinrichtungen.

Portrait Stauffenberg

Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Sein Attentat vom 20. Juli 1944 war der bedeutendste Umsturzversuch des militärischen Widerstandes in der Zeit des Nationalsozialismus.

© picture alliance  akg-images

Auch Heinrich Graf von Lehndorff-Steinort wurde hingerichtet – am 4. September 1944 in Plötzensee bei Berlin. Er war 35 Jahre alt. Er war über Henning von Tresckow in der Heeresgruppe Mitte zum Widerstand gestoßen, nachdem er offenbar im Hinterland der Front zum Zeugen von Massenerschießungen der SS geworden war. Tresckow selbst hatte sich am Tag nach dem gescheiterten Attentat an der Front das Leben genommen.

Es folgte die Fortsetzung des Krieges. Vom Kriegsbeginn 1939 bis zum 20. Juli 1944 gab es 2,8 Millionen Tote, danach bis zum Kriegsende 4,8 Millionen. Das Morden in den Gaskammern der Konzentrationslager lief weiter auf Hochtouren.

Waren sie Helden?

Es liegt nahe, die Verschwörer des 20. Juli als Helden zu verehren. Sie riskierten ihr Leben, und die meisten verloren es - erschossen nach der Tat, gehängt nach entwürdigenden Schauprozessen oder durch faktisch erzwungenen Freitod. Viele von ihnen ahnten dies im Voraus, aber sie handelten trotzdem - am Ende tatsächlich, um wenigstens die Ehre Deutschlands zu retten, nach all den Morden und den Verbrechen, die Krieg und Konzentrationslager über die Menschheit gebracht hatten - in deutschem Namen. Sie hinterließen Familien und Kinder, die teils in Sippenhaft leiden mussten. Und die Ehepartner wussten es oder ahnten es zumindest, soweit sie nicht eingeweiht waren. Ein grausames Schicksal mit großem moralischen Antrieb, auch wenn immer wieder - wie zuletzt 2019 in einer neuen Stauffenberg-Biografie von Thomas Karlauf – krampfhaft versucht wird, die Ethik des Verhaltens mit Blick auf die Sozialisation des Betroffenen in Zweifel zu ziehen, was allerdings im Kern scheitert.

Gleichwohl schreckt man zurück, von "Helden" zu sprechen. Die Gründe liegen auf der Hand: Viele der Verschwörer, auch die führenden Persönlichkeiten des militärischen Widerstands, waren selbst in den Kriegsjahren mindestens Mitwisser geworden von den Gräueltaten der Nazis - sei es wie Henning von Tresckow in der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront, in deren Hinterland die Waffen-SS den Partisanenkampf vor allem gegen Juden mit größter Brutalität führte, sei es wie Heinrich Graf von Lehndorff-Steinort  und Schwerin von Schwanenfeld als direkte oder indirekte Zeugen von Massenerschießungen. Sie waren über Jahre in schwerster Gewissensnot und entschieden sich erst relativ spät zur Tat, als klar wurde, dass der Krieg verloren ging.

All dies ist längst bestens belegt. Genauso wie die Tatsache, dass die allermeisten der Verschwörer keineswegs der Weimarer Republik und Demokratie nachtrauerten, sondern für den parlamentarischen Parteienstaat nur wenig mehr als Verachtung übrighatten. Einige hingen dem kaiserlichen oder altpreußischen Obrigkeitsstaat nach wie Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg oder auch der avisierte Reichskanzler und ehemalige Oberbürgermeister von Leipzig Carl Goerdeler. Andere hatten eine neue elitäre, korporative Ständegesellschaft im Blick, die bestenfalls romantisch verklärt, aber auf keinen Fall zukunftsweisend war - ganz abgesehen von weit verbreitetem Antisemitismus und antiwestlicher Aversion gegen die Aufklärung. Nur wenige wie die Vertreter des Kreisauer Kreises um James Graf von Moltke hatten Konzepte für das europäische Zusammenleben, wie sie tatsächlich später ansatzweise realisiert wurden. Es ist kein Zufall, dass all diese Ideen in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg kaum Spuren hinterließen, nachdem die westlichen Alliierten nach der bedingungslosen Kapitulation das Heft in die Hand genommen hatten und fortan die Richtung der Entwicklung bestimmten.

Henning von Tresckow
Henning von Tresckow nahm sich nach dem gescheiterten Attentat an der Front das Leben © picture-alliance / akg-images | akg-images

Waren sie Verräter?

Statt Helden also reaktionäre Verräter, die der tragisch gescheiterten Weimarer Republik im Nachhinein in den Rücken fielen? Auch dies wäre natürlich in Anbetracht der Verbrechen der Nazis ein völlig verfehltes Urteil. Dazu hat Stauffenberg im Grund in einem berühmten Satz das Nötige gesagt: "Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter an seinem eigenen Gewissen."

Damit meinte Stauffenberg: Die Verbrechen der Nazis waren so immens, dass sie nur mit der Tötung Hitlers zu beantworten waren, wenn man seinem Gewissen folgt. Nach heutigen moralischen Maßstäben hatte er ohne Zweifel Recht - und eben dies lässt uns seine Tatbereitschaft mit ehrendem Gedenken und Respekt in Erinnerung rufen. Dies war in den fünfziger Jahren noch ganz anders, als das Ausscheren aus der militärischen Disziplin im soldatischen Milieu als Verbrechen galt. Erst Bundespräsident Theodor Heuss leitete mit seiner berühmten Rede an der Freien Universität Berlin 1954 zehn Jahre nach dem 20. Juli 1944 und mit der Aufnahme des militärischen Widerstands in die Traditionslinie der Bundeswehr fünf Jahre später 1959 einen Wandel ein: hin zur Priorität des Gewissens jedes Einzelnen in humanitären Extremlagen, wie sie nun einmal im nationalsozialistischen Angriffskrieg und bei der Vernichtung des europäischen Judentums herrschten.

Von Verrat also keine Spur? So ist es, jedenfalls beim 20. Juli 1944. Allerdings gebietet es die demokratische Redlichkeit, zur Vorsicht zu mahnen. Auch das Attentat auf Hitler samt der Operation Walküre war nun mal ein Staatsstreich - und als solcher potenziell gegen eine "Ordnung" gerichtet, die von den Militärs seinerzeit aus besten ethischen Gründen abgelehnt wurde. Aber wie sieht es aus, wenn diese "Ordnung" verfassungsgemäß, rechtsstaatlich und demokratisch legitimiert ist? Darf etwa eine Gruppe von Militärs in der Bundesrepublik Deutschland den Umsturz planen, als Staat im Staate, wenn sie Rechte verletzt sieht? Und welche Rechte genau? Und wo genau liegt die Grenze, bei dem das Gewissen über die Ordnung - so korrumpiert sie sein mag – obsiegen darf? Eines erscheint sicher: Der demokratische Verfassungs- und Rechtsstaat muss dafür die Latte sehr hoch legen, sonst wird die freiheitlich demokratische Grundordnung zum Spielball des Militärs. Es ist ein Glück, dass sich seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland diese Frage nie mehr praktisch gestellt hat, weil die Bonner und Berliner Republik – anders als die von Weimar – so erfolgreich war und ist. Gleichwohl darf man das grundsätzliche Dilemma niemals aus dem Blick verlieren.

Schloss

Schloss Steinort im polnischen Ermland-Masuren, über Jahrhunderte Sitz der Grafen von Lehndorff. Letzter Herr und Eigentümer des Schlosses war der Widerstandskämpfer gegen Hitler und Mitverschwörer des 20. Juli 1944 Heinrich Graf von Lehndorff-Steinort. Er wurde am 4. September 1944 in Plötzensee hingerichtet.

© FNF

Waren sie Vorbilder?

Wenn schon nicht Helden und schon gar keine Verräter, so doch wenigstens Vorbilder? Ja und nein. Ganz eindeutig "Ja", was den Mut zur Tat betrifft - und das Zahlen des Preises, der da lautete: das eigene Leben. Henning von Tresckow hat es nach dem gescheiterten Attentat kurz vor seinem Freitod gegenüber dem Freund Fabian von Schlabrendorff laut dessen späterer Niederschrift so formuliert: "Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung sein Leben hinzugeben." Das ist ein Satz wie aus einer anderen Zeit: hart und unerbittlich, vielleicht geht er zu weit. Aber die Richtung stimmt, sein Kern ist zutreffend. Er gilt erst recht heute, wo allenthalben die Neigung besteht, schon die kleinste Tat von risikolosem Aufmucken als "Widerstand" hochzustilisieren.

Schwieriger wird es aber, wenn man die Ideale und Motive in den Blick nimmt, die über lange Jahre die Hauptakteure des Widerstands bewegt haben. Da sind sie ganz normale Kinder ihrer Zeit - und damit keineswegs vorbildhaft. Von romantisierter Jugendbewegung über den überspannten George-Kreis bis zu dezidiert nationalen und antidemokratischen Idealen, das war das Spektrum der Motivationskulisse der zwanziger Jahre, das die großen Persönlichkeiten des 20. Juli 1944 antrieb. Manche wie Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg waren langjährig begeisterte Parteimitglieder der NSDAP, andere wie Henning von Tresckow warben 1933 für den Nationalsozialismus. Erst Röhm-Putsch 1934 und Fritsch-Krise 1938 sowie Hitlers außenpolitische Aggressivität in den späten dreißiger Jahren trieben sie in die Arme dessen, was wir heute "Vernunft" nennen würden - und selbst dies noch bei einigen mit Rückschlägen und Verzögerungen. Also: Vorbilder nicht in ihrem Bild der Welt, aber in ihrem Mut zum Handeln.

Darin aber wirklich große Vorbilder, und einsame obendrein. Französische Offiziere (nicht deutsche!), so berichtet der Militärhistoriker Winfried Heinemann, vertraten 1959 im Gespräch die Auffassung, die Tat der deutschen Offiziere könne nicht gebilligt werden, denn Deutschland habe sich damals im Krieg befunden, und im Krieg sei ein Attentat auf den obersten Befehlshaber ein Verbrechen. Ähnlich dachten wohl all jene der Alliierten, zu denen die Verschwörer während des Zweiten Weltkriegs auf verschlungenen Wegen den Gesprächskontakt suchten – teils aus Erziehung und Überzeugung, teils aus militärstrategischen (und nachvollziehbaren) Vorbehalten. Selbst also beim „Feind“ keinerlei Verständnis, nur Misstrauen. Es klang deshalb wie der Nachhall eines schlechten Gewissens, dass ausgerechnet Winston Churchill kurz nach dem Zweiten Weltkrieg dem militärischen Widerstand des 20. Juli ein Denkmal in Worten setzte. Er sagte:

In Deutschland lebte eine Opposition, die zum Edelsten und Größten gehört, was in der politischen Geschichte der Völker je hervorgebracht wurde. Diese Männer kämpften ohne Hilfe von innen und außen, einzig getrieben von der Unruhe ihres Gewissens.

Winston Churchill

Über Deutschland hinaus

Wir sind hier in Steinort, in Polen. Hat das Verhalten der Verschwörer des 20. Juli 1944 für andere Nationen als Deutschland heute eine Bedeutung? Es kann nicht die Angelegenheit eines Deutschen wie mir sein, meinen Gastgebern hier in Polen irgendwelche Vorschläge zu machen, den Ereignissen vom 20. Juli 1944 für ihre eigene Nation, für Europa und die Welt eine Bedeutung beizumessen. Jede Nation muss dies für sich entscheiden. Ich kann nur für mich und vielleicht für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, deren Vorstandsvorsitzender ich bin, ganz allgemein Folgendes formulieren:

Was vor 80 Jahren mit der „Operation Walküre“ geschah, betrifft Werte, die uns alle angehen – weit über Deutschland hinaus. Es geht um den Mut zur Tat, es geht um die Ehre einer Nation, es geht um das Recht der Menschen, und es geht um das, was einige der Attentäter einfach „Anstand“ nannten – als einer fundamentalen Kategorie menschlichen Zusammenlebens, die das Hitler-Regime in unvorstellbarer Weise mit Füßen trat.

Mut, Ehre, Recht, Anstand – das sind alles Begriffe und Vorstellungen aus vordemokratischer Zeit, die aber in unser demokratisches Zusammenleben hineinragen. An universaler Gültigkeit sollten sie nichts verloren haben, gerade auch nicht in einer Zeit der Globalisierung, die seit 2022 wieder durch einen aggressiven Krieg in Europa begleitet wird. Die Werte der Verschwörer sind also aktueller denn je.

Bildergalerie

Artushof

Artushof in Danzig, 16. Juli 2024: polnisch-deutsches Gedenken nach 80 Jahren Attentat auf Hitler, u.a. mit dem ehemaligen polnischen Botschafter in Deutschland Janusz Reiter (2.v.r.) und der deutschen Generalkonsulin in Danzig Cornelia Pieper (3.v.l.).

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20.7.1944

Diskussion über die Operation Walküre - in Schloss Steinort am 17. Juli 2024: Markus Meckel (l.), Cornelia Pieper (Mitte) und Karl-Heinz Paqué (r.).

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Steinort

In Steinort mit Ehrengast Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart, Kommandierender General des Multinationalen Korps Nord-Ost der NATO in Stettin, Polen.

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Paqué

Termin in der Wolfsschanze am 18. Juli 2024. Vorstellung der Gedenktafel für die Verschwörer am Ort der Tat, 80 Jahre danach.

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