Proteste Georgien
Die politische Situation in Georgien ist am brodeln
In Georgiens Hauptstadt Tiflis kam es in der Nacht zu Freitag zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Die Polizei setzte Gummigeschosse und Tränengas ein, es gab zahlreiche Verletzte. Tausende Demonstranten versammelten sich am Donnerstagabend vor dem Parlament und versuchten, es zu stürmen.
Grund für die Proteste war der Auftritt russischer Abgeordneter im Parlament. Insbesondere, dass der russische Abgeordnete Sergej Gawrilow auf dem Stuhl des georgischen Parlamentspräsidenten Platz genommen hatte, brachte das Fass zum Überlaufen. freiheit.org sprach mit dem Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Südkaukasus, Peter-Andreas Bochmann, über die aktuelle Situation in der georgischen Hauptstadt.
In der vergangenen Nacht kam es zu massiven Ausschreitungen in Georgien. Können Sie uns den Auslöser und die jetzige Situation vor Ort kurz schildern?
Peter-Andreas Bochmann: Gestern ist die politische Situation in Georgien förmlich explodiert. Anlass war der Besuch russischer Duma-Abgeordneter. Sie waren Teilnehmer einer Interparlamentarischen Versammlung der Orthodoxie, die im georgische Parlament tagte. Als die Tagung im Parlament begann, saß Sergej Gawrilow auf dem Stuhl des Parlamentssprechers. Das Bild ging viral und löste Proteststürme aus.
Der „Okkupant Russland“, der in der Wahrnehmung der meisten Georgier 20 Prozent des georgischen Territoriums – die abtrünnigen Gebiete Südossetien und Abchasien – besetzt hält und mit dem seit dem Krieg 2008 keine diplomatischen Beziehungen bestehen, sitzt auf dem Stuhl des höchsten Repräsentanten des georgischen Parlaments. Dieses Symbol ist für viele, wenn nicht alle Georgier, unerträglich. Vertreter der Opposition stürmten aus Protest das Podium – die Sitzung konnte nicht fortgesetzt werden. Die russischen Abgeordneten verließen die Konferenz, fuhren zurück ins Hotel und verließen kurze Zeit später das Land.
Medienberichten zufolge versammelten sich am Abend bis zu 30.000 Menschen auf der Rustaveli, der Hauptschlagader der Stadt vor dem Parlament. Grigol Vashadze, Vorsitzender der oppositionellen Partei „UNM“ stellte ein Ultimatum, das binnen einer Stunde Parlamentspräsident, Innenminister und der Chef der Staatssicherheit zurücktreten sollen. Die Proteste hielten an und eskalierten. Einige Demonstranten versuchten das Parlament zu stürmen, während gleichzeitig massive Polizeikräfte zusammengezogen wurden.
Später kam es gegen die Demonstranten zum Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen. Laut Agenturmeldungen wurden hunderte Menschen verletzt – sowohl Demonstranten als auch Polizisten. Auch nachdem sich die Menge größtenteils aufgelöst hatte, machten Sicherheitskräfte im Park des 9. April unter Einsatz von Gummigeschossen Jagd auf einzelne Demonstranten, zwei von ihnen verloren laut georgischer Nachrichtenagenturen ein Auge. Human Rights Watch Georgien kritisierte den Einsatz von Gummigeschossen, Tränengas und Wasserwerfern. „Die Polizei kann legitime Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass das Parlament gestürmt wird. Aber sie ist verpflichtet, die Menschenrechtsstandards für die Anwendung von Gewalt einschließlich Gummigeschossen und Tränengas einzuhalten“, erklärte die Menschenrechtsorganisation.
Wie verhält sich die Regierung zum Vorfall im Parlament?
Seitens der Regierung ist viel Bedauern zu hören. Der Parteichef der Regierungspartei „Georgian Dream“ (GD) Bidsina Iwanischvil hat sich entschuldigt und von einem Fehler im Protokoll gesprochen. Parlamentspräsident Irakli Kobakhidze, der vorzeitig von einer Aserbaidschanreise zurückkehrte, sprach ebenfalls davon, dass es für ihn unerträglich sei, einen russischen Abgeordneten auf seinem Platz zu sehen. Inzwischen ist er zurückgetreten.
Ähnlich äußerten sich die Staatspräsidentin, der Ministerpräsident und der Generalsekretär der Regierungspartei. Tamar Kordzaia, politische Sekretärin des Stiftungspartners „Republikanische Partei Georgiens“ sagte: „Jeder kann nun sehen, dass uns die Regierung betrogen hat. Auch andere Oppositionspolitiker kritisierten die Regierung scharf und sprachen davon, dass Bidsina Iwanischwili das Land an Russland übergeben wolle.
Die Entschuldigung der Regierung hat die Demonstranten jedoch nicht beschwichtigen können. Inzwischen gibt es eine Mobilisierung in ganz Georgien und für heute Abend werden noch mehr Demonstranten vor dem Parlament erwartet. Der Innenminister, der angekündigte - wenn nötig - zurückzutreten, sagte, dass alles getan werde, um staatliche Institutionen zu schützen – was immer das heißen mag. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung hat schon seit längerem zugenommen, denn für viele Georgier hat sich trotz relativ guter Wirtschaftszahlen und einem stark wachsenden Tourismussektor die Lebenssituation kaum verbessert. Die Präsidentschaftswahlen Ende 2018 und die Nachwahlen im Mai 2019 zeigten, dass sich die Regierungspartei „Georgian Dream“ nur noch mit erheblichem Aufwand aller lauteren und zum Teil unlauterer Mittel an der Macht halten konnte.
Wie ist die derzeitige Lage in der Stadt?
Es ist ungewöhnlich ruhig, wenn man sonst das alltägliche Verkehrschaos in der georgischen Hauptstadt gewohnt ist. Zahlreiche Botschaften haben Warnungen ausgesprochen. Auch die deutsche Botschaft warnte vor weiteren Demonstrationen und gewalttätigen Ausschreitungen – auch im Rahmen der in dieser Woche zum ersten Mal stattfindenden „Tbilisi Pride“. Sie rief die Menschen dazu auf, die lokalen Medien zu verfolgen, Menschenansammlungen weiträumig zu meiden und den Anweisungen der Sicherheitskräfte zu folgen.
Wie ist Ihre Prognose für die weitere Entwicklung?
Das ist im Moment schwer einzuschätzen, da sich die Situation stündlich verändert. Die Regierung hat allerdings angekündigt, ihr Team umzubauen. Ob das den Demonstranten als Antwort reicht, ist noch nicht zu sagen. Auswirkungen haben die Vorfälle allerdings auf die „Tbilisi Pride“. Am Freitag findet eine Internationale Konferenz zum Thema LGBTIQ statt, bisher verlief alles ruhig. Der für Samstag geplante Pride-Marsch, der in der georgischen Gesellschaft höchst umstritten ist, wurde mittlerweile jedoch vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen und Proteste abgesagt.