Brexit
Kurs No Deal: Wer kann Johnson noch ins Ruder greifen?
Unter Boris Johnson steuert das britische Schiff in Richtung eines „No Deal“. Fraglich ist, wem es noch gelingen kann, in die Ruderspeichen zu greifen. Der Europäischen Union sind die Hände gebunden, sofern sie nicht einknickt und maßlose Forderungen annimmt. Alle Hoffnungen ruhen damit auf dem Unterhaus, analysiert Europa-Experte Sebastian Vagt.
Noch 83 Tage bis zum Brexit, wieder läuft der Countdown. Die tickende Uhr hat viel von ihrem Schrecken verloren, seit sie schon zweimal fast abgelaufen und dann wieder neu aufgezogen wurde. Doch wie kann die unkontrollierte Scheidung des Vereinigten Königreichs von der EU diesmal verhindert werden? Ein Ausweg ist noch nicht auszumachen.
Die kürzlich abgelöste Premierministerin Theresa May flirtete selten mit der Option eines vertragslosen Austritts. Sie führte zähe Verhandlungen mit der EU und versuchte unter Einsatz ihres eigenen politischen Überlebens, das Resultat dieser Verhandlungen durch das britische Parlament zu bringen. Ihre Drohung an die Abgeordneten, dass es nur „ihren Dealoder keinen Deal“ gäbe, war niemals glaubhaft.
May wollte keinen No Deal
Nachdem das Austrittsabkommen im House of Commons insgesamt dreimal abgelehnt worden war, beantragte May bei der EU erwartungsgemäß eine Fristverlängerung. Während der gesamten Verhandlungen stand sie in engem Austausch mit ihren europäischen Amtskollegen und EU-Chefunterhändler Michel Barnier. Mit May am Ruder durfte man sich stets ziemlich sicher sein, dass der No Deal-Countdown nur ein theoretischer war.
Mit dem neuen Premierminister Boris Johnson ist das anders. Er hat sich während des parteiinternen Wahlkampfes und der ersten Tage im neuen Amt felsenfest darauf festgelegt, dass „das Vereinigte Königreich am 31. Oktober ohne Wenn und Aber die EU verlässt“. Dies sei wichtig, um „Vertrauen in die Demokratie wieder herzustellen“. Dafür übernehme er „die volle Verantwortung.“ Ein Austritt ohne Abkommen sei schlussendlich der letzte Ausweg, um diese Versprechen einzulösen.
Johnson tut jedoch erstaunlich wenig, um mit seinen europäischen Partnern zu einer Einigung zu finden. Er formuliert unmögliche Forderungen und überlässt die Gespräche in Brüssel seinem Adlatus, Brexit-Minister Stephen Barclay. Als ersten ausländischen Regierungschef traf Johnson diese Woche den estnischen Premier Jüri Ratas - zwar ein EU-Ministerpräsident, aber vielleicht trotzdem nicht der wichtigste Gesprächspartner, um an einer Lösung der vertrackten Brexit-Situation zu arbeiten. Man gewinnt den Eindruck, ein No Deal sei in Johnsons Strategie nicht ultima ratio, sondern das eigentliche Ziel.
Das volle Chaos eines unkontrollierten Brexit
Über die vermeintlichen Absichten des neuen britischen Regierungschefs wird derzeit viel spekuliert. Die einen glauben, Johnson plane, einen Austritt ohne Abkommen knallhart durchzuziehen, um dadurch sowohl die politische Krise in Westminster als auch die gesellschaftliche Spaltung aufzulösen. Besonders zynische Anhänger dieser Theorie vermuten außerdem, dass Johnson in diesem Fall einen Neuwahltermin für unmittelbar nach dem Austrittsdatum anberaumen würde. Zu diesem Zeitpunkt hätte die Brexit-Party, gefährlichste politische Kraft für die Konservativen, ihre Daseinsberechtigung verloren. Gleichzeitig wäre das volle Chaos des unkontrollierten Brexits noch nicht offenbar, da die Staus in Dover und Calais einige Tage bräuchten, um zu voller Länge anzuwachsen.
Andere wiederum glauben, Johnson setze darauf, dass ihn jemand rechtzeitig stoppe. Diesem jemand, vorzugsweise den Rebellen der eigenen Partei oder dem ganzen Parlament, könne Johnson dann die Schuld für den nicht erfolgreichen Austritt in die Schuhe schieben.
Was die Motive des neuen britischen Kapitäns auch sein mögen, fest steht, dass er einen Kurs eingeschlagen hat, auf dem das britische Schiff schnurstracks auf die Klippe eines No Deal-Brexits zusteuert. Alle Hoffnungen auf ein erfolgreiches Manöver des letzten Augenblicks ruhen damit auf dem Unterhaus.
Dort verfügt Boris Johnson über eine Mehrheit von nur einem Sitz, und das auch nur dank der Unterstützung durch die zehn Abgeordneten der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP). Johnson, der keine Abstimmung im Parlament überstehen musste, um zum Premierminister ernannt zu werden, weiß außerdem, dass einige Abgeordnete seiner eigenen Partei als „Remainer“ gelten. Das heißt, sie würden notfalls auch mit der Opposition stimmen, um einen Austritt ohne Abkommen zu verhindern.
Alternative Option verabschieden
Doch welche Möglichkeiten hat das Parlament überhaupt? Es genügt nicht, dass eine Mehrheit der Abgeordneten des House of Commons gegen einen vertragslosen Austritt stimmt, wie im März bereits geschehen. Es muss sich vielmehr eine Mehrheit finden, die eine alternative Option als Gesetz verabschiedet. Denkbar wäre eine Bestimmung, die die Regierung dazu zwingt, das Austrittsgesuch gemäß Art. 50 des EU-Vertrages zurückzuziehen. Damit würde die Brexit-Uhr nicht neu aufgezogen, sondern ganz abgeschafft. Ein derart radikaler Entschluss würde aber auch von vielen Brexit-Gegnern als Verrat am Ergebnis des Referendums empfunden und hat daher wenig Aussicht auf Erfolg.
Wahrscheinlicher ist hingegen, dass sich eine Mehrheit der Abgeordneten dazu durchringt, die Regierung darauf zu verpflichten, eine weitere Verlängerung zu beantragen. Ein solches Gesetz wäre allerdings kaum wirksam durchzusetzen. Außerdem bliebe die letzte Entscheidung in den Händen des Europäischen Rates. Die übrigen 27 EU-Regierungschefs müssten dann darüber entscheiden, ob sie einer britischen Regierung, die sich maximal unkooperativ zeigt, eine weitere Verlängerung zugestehen möchten. Man erinnert sich an die Absichtserklärung des konservativen Abgeordneten Jacob Rees-Mogg, mittlerweile zum Fraktionsvorsitzenden befördert, im Falle einer erneuten Fristverlängerung „als EU-Mitglied so schwierig wie möglich“ zu sein.
Die Queen könnte alles abwenden
Ein ganz anderes Szenario beflügelt seit dieser Woche die Fantasie der Brexit-Gegner. Die Oppositionsparteien könnten zu Beginn der neuen Sitzungsperiode ein Misstrauensvotum gegen Boris Johnson anstrengen und dieses mit den Stimmen einiger weniger Rebellen aus der konservativen Fraktion möglicherweise sogar gewinnen. Die Abgeordneten hätten danach vierzehn Tage Zeit, eine alternative Regierungsmehrheit zu bilden, was ihnen wahrscheinlich nicht gelänge. Johnson müsste daraufhin zwar Neuwahlen ausrufen, deren Termin er aber frei wählen könnte. Sein Chefstratege, der ehemalige Direktor der Leave-Kampagne, Dominic Cummings, stellte bereits klar, dass Johnson das Ergebnis eines Misstrauensvotums solange ignorieren würde, bis der Brexit passiert sei.
Sollte sich Johnson tatsächlich weigern, sein Amt abzugeben, hoffen viele Remainer auf Unterstützung durch eine andere Instanz: Niemand geringeres als die Queen hätte dann theoretisch die Macht, den Premierminister zu entlassen. Wie die Queen zum Brexit steht, ist spätestens seit ihrem Auftritt mit Europa-Hut im Oberhaus im Jahr 2017 bekannt. Ob Elisabeth II. jedoch tatsächlich bereit wäre, sich erstmals in ihrer 67-jährigen Amtszeit aktiv in die Politik einzumischen, bleibt ungewiss.
Diese Szenarien zeigen, dass man mittlerweile ein gutes Maß an Konjunktiv und Fantasie benötigt, um sich die Abwendung eines No Deal-Brexits vorzustellen. Die Buchmacher sind da noch etwas optimistischer. Die Quoten für einen vertragslosen Austritt sind immer noch etwas höher als für eine Verlängerung oder einen Widerruf des Austrittsgesuchs.
Sebastian Vagt ist European Affairs Manager im Brüsseler Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.