Europawahl
Liberale für Europa, Pfannenwender gegen den Brexit
Die Wahlen zum Europäischen Parlament haben gestern in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich begonnen. In den anderen Mitgliedstaaten wird während der folgenden Tage und bis einschließlich Sonntag – dem Wahltag in Deutschland – gewählt.
Für viele der mehr als 400 Millionen Wahlberechtigten sind die Europawahlen vorrangig eine nationale Wahl. In den meisten Wahlkämpfen geht es eher um die Politik der aktuellen nationalen Regierung, als um die großen Fragen der nächsten europäischen Legislaturperiode. Die Anwärter auf die Kommissionspräsidentschaft sind weitaus weniger bekannt als nationale Parteivorsitzende, und die Namen der europäischen Parteienfamilien tauchen auf den Wahlzetteln allenfalls am Rande auf.
Doch die Ergebnisse dieser 28 auf nationaler Ebene abgehaltenen Wahlen werden den Kurs der Europäischen Union für die nächsten fünf Jahre maßgeblich bestimmen. Wer wird die Europäische Union zukünftig auf internationaler Bühne vertreten? Gelingt es den Mitgliedstaaten, sich geschlossen für Freihandel, Klimaschutz und Abrüstung einzusetzen? Wird die Europäische Union ihre demokratischen Grundprinzipien in den eigenen Mitgliedstaaten durchsetzen können?
In Brüssel blickt man deshalb gespannt auf die Verkündung der Ergebnisse am Sonntagabend. Die Europaparteien und -fraktionen haben sich während der vergangenen Wochen neu aufgestellt und wissen, wie ein erfolgreicher Nachwahlabend für sie aussehen würde.
Die Parteien und ihre Ziele
Die Europäische Volkspartei (EVP), bisher Siegerin aller Europawahlen, weiß, dass sie gemessen an der Vergangenheit nur verlieren kann. Das Bündnis aus der bislang größten nationalen Einzelgruppe, der CDU/CSU, und anderen christdemokratischen und konservativen Parteien aus 26 Mitgliedstaaten wird laut aktueller Umfragen statt auf bisher 216 nur noch auf rund 170 Sitze kommen. Ihr Spitzenkandidat Manfred Weber und seine Mitstreiter erwarten jedoch, dass die EVP trotzdem ihren Status als größte Fraktion behaupten kann. Sie werden außerdem hoffen, dass keine denkbare Koalition in der Lage sein wird, eine Mehrheit gegen sie zu bilden.
Die größten Herausforderer der EVP sind die europäischen Sozialdemokraten (S&D). Spitzenkandidat und Vize-Kommissionspräsident Frans Timmermans darf sich darüber freuen, dass die Briten an der Wahl teilnehmen und bis zu 20 Labour-Abgeordnete zu seiner Unterstützung nach Brüssel entsenden werden. Außerdem ist seine eigene Partei laut Nachwahlbefragungen überraschend Siegerin der Europawahl in den Niederlanden geworden, die am Donnerstag stattfand. Prognosen sehen die Sozialdemokraten bei 155 Parlamentssitzen. Sollten sie statt der EVP größte Fraktion werden, wäre das ein Riesenerfolg.
Die liberale ALDE-Partei dürfte zu den Siegern dieser Wahl zählen. Das Parteienbündnis aus FDP, den spanischen Ciudadanos, der niederländischen VVD, den britischen Liberal Democrats und anderen liberalen Parteien wird nach der Wahl eine Fraktionsgemeinschaft mit etwa zwanzig französischen Abgeordneten der „Renaissance“-Liste von Präsident Macron bilden. Damit könnten die Liberalen die Zahl ihrer Mandate von derzeit 69 auf hundert steigern. Vorausgesetzt, dass die Abgeordneten von Sozialdemokraten und EVP zukünftig keine eigene Mehrheit mehr im Europäischen Parlament haben, könnte den Liberalen die Rolle des Königsmachers zufallen.
Zu den Siegern dieser Wahlen könnten allerdings auch die Euroskeptiker und Rechtspopulisten gehören. Diese waren zuletzt stark gespalten, werden aber in Zukunft unter der Führung des italienischen Innenministers Matteo Salvini enger zusammenarbeiten. Dieser darf darauf hoffen, mit seiner rechten Partei „Lega“ über 25 Sitze zu erringen und damit eine der stärksten nationalen Delegationen zu stellen. Seine Partner sind unter anderem die deutsche AfD, das französische „Rassemblement National“ von Marine Le Pen sowie die österreichische FPÖ. Sollte die ungarische Fidesz von Premierminister Victor Orban die EVP endgültig verlassen und Salvinis „Europäischer Allianz der Völker und Nationen“ beitreten, könnte diese der ALDE den Rang als drittgrößte Fraktion ablaufen und ebenfalls um die hundert Sitze für sich reklamieren.
Andere Euroskeptiker und gemäßigte Rechte werden sich auch zukünftig in der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) versammeln, zu der unter anderem die polnische Regierungspartei PiS und die britischen Konservativen („Tories“) zählen. Sie können mit rund 90 Sitzen rechnen.
Die europäischen Linken (GUE/NGL) und Grünen (Grüne/EFA), deren größte Einzelmitglieder die jeweiligen deutschen Parteien sind, leiden nach wie vor darunter, in vielen Mitgliedstaaten entweder gar keine oder nur unbedeutende Partnerparteien zu haben. Daher ändern auch die starken Umfrageergebnisse der deutschen Grünen nichts daran, dass beide Fraktionen wie schon 2014 europaweit nur etwa 55 Sitze gewinnen werden.
„Preferendum“ statt Europawahl im Vereinigten Königreich
Im Vereinigten Königreich spielen diese Überlegungen eine untergeordnete Rolle. Irina von Wiese, Spitzenkandidatin der Liberal Democrats in London erklärt: „Vor zwei Monaten wusste niemand von uns, ob diese Wahl überhaupt stattfinden wird, nicht einmal ich als Kandidatin“. Seit Ankündigung der Wahl wurde diese jedoch von Kandidaten, Medien und Wählern konsequent zu einem erneuten Votum über den Verbleib in der Europäischen Union umgedeutet. Die Zusammensetzung des künftigen Europäischen Parlamentes ist dabei zweitrangig. Es geht vor allem um die Frage, wer mehr Stimmen erhält: die erklärten „Brexiteers“, also die Brexit-Partei von Nigel Farage und konservative Tories, oder die „Remainer“, also die Liberal Democrats, die britischen Grünen, die neue Partei Change UK und Teile von Labour.
Von dieser Situation profitieren vor allem die Parteien mit einer klaren Position zum Brexit. In den Umfragen führt die extra zu diesem Anlass gegründete Brexit Party (35%) vor den Liberal Democrats (19%), die im Zuge der Kommunalwahlen Anfang Mai enormen Aufwind bekommen haben. Mit einem bitteren Ergebnis müssen dagegen die beiden großen Parteien, Tories und Labour rechnen, die sowohl unter ihren Mitgliedern als auch in ihrem Spitzenpersonal „Brexiteers“ und „Remainer“ vereinen und damit ein unklares Profil haben.
Mit dem Pfannenwender gegen den Brexit
Eine Idee von der politischen Stimmung bekommt man im Londoner Stadtteil Haringey. Irina von Wiese und ihre liberalen Mitstreiter nutzen den Wahltag, um von Haustür zu Haustür zu ziehen und die Menschen daran erinnern, ihre Stimme abzugeben. Ihr wichtigstes Werkzeug dabei: ein Pfannenwender. Denn dort, wo niemand die Tür öffnet, gilt es einen Wahlerinnerungszettel in den Briefschlitz zu schieben. Um sich dabei nicht hundertfach die Finger zu klemmen oder gar einen Hundebiss zu riskieren, bedienen sich die Wahlkämpfer lieber des Kochutensils, um die Schlitzklappe zu öffnen.
Viele Menschen sind aber zu Hause und freuen sich über den Besuch. Im Gespräch bestätigen sie, was die Umfragen längst wissen: Vergangenes Mal hätten sie die Tories oder Labour gewählt, aber nun, da es gilt, den Brexit zu verhindern, hätten sie erstmals für die Liberaldemokraten gestimmt. Diese Stimmung kommt auch im Straßenbild zum Ausdruck. In einem ruhigen Wohngebiet wehen aufwendig installierte Europafahnen. An Hausfenstern findet man kleine Plakate wie „Stop Brexit“, „Better In“ oder das Kampagnenmotto der Liberal Democrats „Bollocks to Brexit“ („Brexit ist Schwachsinn“).
Am Wahltag macht sich in London auch Wut breit. Es wird bekannt, dass viele in Großbritannien lebende EU-Bürger nicht abstimmen konnten – ein Recht, dass ihnen laut europäischer Verträge eigentlich garantiert ist. In der hektisch organisierten Wahl sind Tausende von Ihnen nicht ordnungsgemäß registriert und daraufhin im Wahllokal abgewiesen worden. Ein Skandal, dessen Konsequenzen noch nicht absehbar sind.
Die Londoner Kandidatin von Wiese könnte mit sieben bis zehn liberalen britischen Mitstreitern ins Europaparlament einziehen. Wie lange sie dort bleiben darf, hängt von den Entwicklungen in Westminster ab. Mit ein wenig Glück werden die britischen Abgeordneten über den 31. Oktober 2019 hinaus Teil einer kraftvollen liberalen Fraktion im neuen Europäischen Parlament sein.
Sebastian Vagt ist European Affairs Manager im Brüsseler Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.