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G-20-Gipfel
Tango hinter Polizeisperren

G-20-Gipfel 2018 in Buenos Aires

Es ist eine Premiere: Mit Argentinien trägt zum ersten Mal ein südamerikanisches Land einen G-20-Gipfel aus. Am 30. November und 1. Dezember werden Vertreter der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer in der Hauptstadt Buenos Aires zwei Tage lange über aktuelle Herausforderungen der Wirtschafts- und Finanzpolitik debattieren. Sie bringen nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich einiges auf die Waage: Nach Angaben des Bundesfinanzministeriums repräsentieren die G-20-Staaten derzeit gut 85 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts und rund drei Viertel des Welthandels.

Statt nun stolz darauf zu sein, dass man die politische Elite des Erdkreises für ein paar Tage bei sich zu Gast hat, sprechen die Argentininer seit Tagen vor allem über eine Sache: über Fußball. Am vergangenen Samstag wurde der Mannschaftsbus der Boca Juniors angegriffen, als er auf dem Weg zum Finalspiel der "Copa Libertadores de América", dem Pendant zur europäischen Champions League, war. Die Bilder gingen um die Welt. Finalgegner war River Plata. Beide in Buenos Aires verwurzelten Mannschaften sind einander in tiefster Abneigung verbunden. Das Spiel wurde verschoben, gleich mehrfach. Seit Donnerstag steht fest: Es wird am 9. Dezember nachgeholt, in Madrid. Zwei Teams aus Buenos Aires, die den Südamerika-Cup quasi am anderen Ende der Welt austragen! König Fußball geht ins Exil. Der Staat kapituliert vor dem Gewaltpotenzial der Straße.

Nackte Angst vor weiteren Ausschreitungen

Gewalt ist leider Bestandteil der Streitkultur in Argentinien. Auch beim Stichwort G-20 dreht sich seit Wochen fast alles um das Thema Sicherheit. Natürlich hat man genau beobachtet, wie beim Vorjahresgipfel in Hamburg mit dem Schanzenviertel ein ganzer Stadtteil im Chaos versank. Eine Wiederholung will man unbedingt verhindern. Das ist sportlich. Wie groß das das Gewaltpotential in Argentinien ist, haben die vergangenen Wochen erst wieder gezeigt: ein fehlgeschlagenes Attentat auf einen prominenten, mit Korruptionsfällen betrauten Richter, vor allem aber die mehrfache Verschiebung des „Copa“-Spiels aus nackter Angst vor weiteren gewaltsamen Ausschreitungen. Der Justiz- und Sicherheitsminister der Stadt Buenos Aires, vergleichbar dem Senator eines deutschen Stadtstaats, nahm nach dem Angriff auf den Boca-Mannschaftsbus seinen Hut. Auch das natürlich nicht eben beruhigend wenige Tage vor dem Besuch zahlreicher Staats-, Regierungs- und Notenbankchefs am Río de la Plata, für die die höchsten Sicherheitsstufen gelten.

Um die eigentlichen thematischen Schwerpunkte des Treffens - Zukunft der Arbeit, nachhaltige Landwirtschaft und Kryptowährung - geht es in den öffentlichen Diskussion im Gastgeberland allenfalls am Rande. Die Menschen in Buenos Aires haben andere, ganz konkrete Sorgen: In der Stadt herrscht schon seit Mittwoch, zwei Tage vor Beginn des Treffens, Ausnahmezustand. In viele Straßen im Stadtzentrum kommt man nur mit Ausweis. Sie wurden polizeilich abgesperrt. An den beiden Tagen des Gipfels werden der komplette U-Bahn- und innerstädtische Zugverkehreingestellt. Busse Umfahren das Zentrum weiträumig. Weite Teile der Innenstadt sind für den Autoverkehr gesperrt. Rund 22.000 Polizisten aus den Provinzen sollen für die Sicherheit der Staatsgäste sorgen. Damit sich das Chaos in Grenzen hält, ist der Freitag, der erste Tag des Gipfeltreffens, zum freien Tag erklärt worden, zumindest für den öffentlichen Sektor. Der private hat sich angeschlossen. Und das Ministerium für nationale Sicherheit hat den Menschen empfohlen, die Stadt, wenn irgend möglich, für die Dauer des Gipfels einfach ganz zu verlassen.

Kirchnerismo: dirigistische Wirtschaftspolitik

Für Mauricio Macri, den argentinischen Präsidenten, bietet der Gipfel durchaus die Chance, in der Rolle des Gastgebers zu glänzen. Diese Chance will er nutzen. Seine liberal-konservative Regierung steht innenpolitisch nämlich unter starkem Druck. Die Wirtschaftsdaten sind katastrophal. Vor allem die galoppierende Inflation hat die Stimmung im Land aufgeladen. Dass die Ursachen auch in der ideologisch aufgeladen, dirigistischen Wirtschaftspolitik der populistischen Vorgängerregierungen von Nestór Kirchner (2003-2007) und seiner Frau Christina Fernández de Kirchner (2007-2015) liegen, blenden die meisten Menschen bedauerlicherweise aus.

Im Herbst kommenden Jahres finden Präsidentschaftswahlen statt. Ein bezogen auf Ergebnisse und Logistik erfolgreicher G-20-Gipfel könnte Macri dabei helfen, innenpolitisch wieder in die Offensive zu kommen und mit Rückenwind in die Auseinandersetzung um seine Wiederwahl zu geraten. Leicht würde das Regieren allerdings auch mit Gipfelerfolg nicht. Der Präsident und sein Regierungsbündnis "Cambiemos" - zu Deutsch: "Ändern wir uns!" - sind zwar seit rund drei Jahren an der Macht. Allerdings haben sie keine verlässliche Mehrheit in den beiden Häusern des Kongresses, weder in der Abgeordnetenkammer noch im Senat.

Gegenleistungen gefordert

In beiden Häusern steht der Regierung eine Mehrheit aus moderaten Peronisten und einer kompromisslosen Linken gegenüber. Bei manchen Abstimmungen hat Macri immerhin die Unterstützung der moderaten Kräfte gewinnen können. Die aber haben natürlich Gegenleistungen gefordert. Die radikalen, sich auf Macris beiden Vorgänger an der Staatspitze berufenden Kirchneristen indes mobilisieren jedes Mal die Straße, wenn eine bedeutende Entscheidung im Kongress zur Abstimmung steht. Kaum eine wichtige Gesetzesinitiative, kaum eine Haushaltsdebatte, die nicht von massiven und gewaltsamen Protesten in der Innenstadt von Bueonos Aires begleitet gewesen wäre.

Themen, die die Welt dieser Tage bewegen, gibt es genug: der jüngste Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, der Handelsstreit zwischen den USA und China, die Tötung des regimekritischen saudischen Journalisten Khashoggi. G-20-Gipfel bieten immer auch ein Forum hochkarätiger bilateraler Treffen. Aber auch die Möglichkeit, sich medienwirksam vorzuführen. Mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jingping will sich US-Präsident Donald Trump treffen. Eine Begegnung mit Kreml-Chef Wladimir Putin indes wurde vom Weißen Haus abgesagt.Gegen den ebenfalls nach Buenos Aires gereisten saudischen Kronprinz Mohammed bin Salmanwiederum liegt eine Anzeige von Human Rights Watch vor, die die argentinische Justiz derzeit prüft. Letztlich wohl nur ein symbolischer Akt, aber immerhin.