Syria Untold
Wenn wir nicht eins werden
Meine Intention war es, mit der Fotografie die Existenz der Ereignisse oder Aktionen zu dokumentieren, die sich am stärksten auf die Menschen auswirkten. Ich wollte, dass es die Syrer auf der anderen Seite meiner Stadt sahen.
Ich habe jedes Bild gespürt, bevor den den Auslöser drückte. Ich wundere mich oft über das Schicksal der Menschen auf meinen Fotos. Orte haben Seelen, genauso wie Menschen, und jedes einzelne ausgebombte Haus oder Gebäude ist voll von Geschichten derer, die einst darin lebten und arbeiteten. Vielleicht starben sie dort und vielleicht flohen sie. Es ist die Seele, die ich durch ein Foto festzuhalten versuche.
Im Jahr 2011 weiteten sich Proteste gegen die Ungerechtigkeit des Regimes in manchen syrischen Städten aus. So weiteten sich auch die Debatten und die Gräben in der Gesellschaft aus. Die Realität, die die Nachrichtenmedien des Regimes skizzierten, war eine andere als die, die ich als Demonstrantin sah.
Zuerst leugneten sie, dass die Proteste stattfanden, indem die Regierung die Demonstranten beschuldigte, sie würden Bestechungsgelder annehmen, um das Land zu erschüttern. Dann leugneten sie die Brutalität und Gewalt der staatsfinanzierten „Shabiha“-Trupps, Sicherheitskräfte und Militärs, angeheuert, um die Proteste zu jedem Preis zu unterdrücken. Später nahmen die Staatsmedien einen nationalistischen Sprech an, der Patriotismus predigte und Widerstand gegen das Regime als Hochverrat porträtierte.
Im Jahr 2012 übernahm die Freie Syrische Armee Orte in meiner Stadt Aleppo. Ich zog auf die andere Seite, aus Angst vor der Verhaftungswelle, die das Regime Anfang 2012 gegen Menschen mit entgegengesetzten Meinungen initiiert hatte.
Immer auf dem Sprung
Zuerst verwendete ich das Pseudonym Zain Karam, um meine Familie zu schützen, bis sie die vom Regime kontrollierten Gebiete verließen.
Am Anfang hielt mich niemand davon ab, Fotos zu machen. Ich zog zuerst nach Bustan al-Qasr. Ich lebte dort eine Weile mit einer Familie, die ich während der Proteste in den Straßen kennengelernt hatte.
Die gewaltlose Phase folgte: Blumen, Flyer, friedlich. Alle Meilensteine wurden abgelaufen und doch blickten wir jetzt absoluter Brutalität ins Antlitz. Das Gedenken an die Proteste wurde zu einer wichtigen Phase der Definition, was eigentlich gerade in Syrien passierte. Auch der Umstand, dass die Proteste in von der Opposition kontrollierten Gebieten weitergingen.
Am 29. Januar 2013 bekam ich den Auftrag vom Reuters Büro in Beirut, ein Massaker zu dokumentieren. Das syrische Regime hatte mehr als 200 Menschen verhaftet und getötet (von denen manche als vermisst gegolten hatten) und ihre Leichen in den Fluss Quaiq werfen lassen, dessen Strom sie in die Rebellengebiete trug. Ich ging hin, um die Körper zu fotografieren, die auf dem Boden eines Schulhofes lagen. Massenweise Menschen kamen, um ihre Angehörigen zu identifizieren. Der Geruch von Tod war stark. Gefesselt und Spuren der Hinrichtung aufweisend, waren die Körper in verschiedenen Stadien der Verwesung.
Leben und Tod gingen Hand in Hand in den Straßen und Vierteln der Stadt. Nichts blieb, wie es war, alles veränderte sich. Die Gesichter, die du jeden Tag sahst, mochten am nächsten Morgen nicht mehr da sein. Die Straßen, auf denen du liefst, konnten innerhalb einer Sekunde ausgelöscht werden. Du konntest nie vorhersehen, was als nächstes geschehen würde.
Als ich Raqqa zum ersten Mal 2013 besuchte, war es unter der Kontrolle der Opposition. Im Vergleich zu Aleppo war es viel lebhafter. Die Straßen und Geschäfte waren voller Menschen. Es gab zwar Luftangriffe, aber nicht in der Intensität wie in Aleppo.
Dort traf ich eine Gruppe von Aktivisten von Haquna - Our Right, eine Organisation, die Bürger über ihre Rechte aufklärte. Während meiner Zeit bei ihnen bekam ich ein Gefühl für Raqqa. In einem Land, dessen Bild zensiert und unterdrückt worden war, war die Heiligkeit des unsterblichen Präsidenten gebrochen und es war nicht länger ein Tabu, gegen ihn zu sein.
Ich war erstaunt von der Tatsache, dass ich nie eine dieser dominanten autoritären Figuren persönlich getroffen hatte und sie doch einen so enormen Einfluss auf mein Leben nahmen.
Am Ende wurden manche der Aktivisten von Haquna zu Flüchtlingen und manche meiner Freunde wurden festgenommen und vom Islamischen Staat entführt und wir hörten nie wieder von ihnen.
Das Schwarze Land
Die Wirtschaft verschlechtert sich in einem Krieg, vor allem für die Zivilsten. In al-Mansoura, einer Stadt in der Nähe von Raqqa, begannen viele Einwohner selbst Rohöl zu fördern und zu raffinieren. Es war ein offenes Feld. Viele Menschen allen Alters arbeiten in Gruppen. Wenn etwas schiefgeht, kann es auf einmal zu einer Explosion kommen. Das Rohöl wird erhitzt in einem großen Container, bis Gas entweicht, welches dann in Kühlwassertanks kondensiert. Arbeiter extrahieren Diesel und Benzin zum Heizen und zum Betreiben von Fahrzeugen und Generatoren.
Dieser Prozess stellt ein nachhaltiges Risiko für die Umwelt dar und für die Menschen, die in den Ölfeldern arbeiten. Viele erlitten Verbrennungen, Lungenkrankheiten und manche starben.
Ich bin nicht nur die Fotografin. Ich bin auch das Subjekt.
Es war schwierig, unter den Luftangriffen und Bombardements zu leben. Immer, wenn ich zuhause war, fürchtete ich, unter dem Schutt begraben zu werden und dass niemand kommen und mich retten würde, weil niemand wusste, dass ich da war.
Ich lebte mit meinem Ehemann in diesem Viertel. Wir zogen oft um, lebten in vielen verschiedenen Häusern in der Stadt, auf dem Land und sogar in der Türkei. Unser Haus wurde von einer Fassbombe zerstört. Es war einer dieser Tage, an denen wir nicht zuhause schliefen. Am nächsten Tag gingen wir mit einem Freund hin. Es schien am anderen Ende der Welt zu sein. Ich nahm das Foto auf.
Es war nicht einfach als einheimische Fotografin in einem feindseligen Umfeld. Einmal verdächtigte mich die Freie Syrische Armee, ein Spitzel des Regimes zu sein und beschuldigte mich, Bilder von Treffen der Truppenführer an das Regime weiterzugeben, obwohl ich nie einem dieser Treffen beigewohnt hatte. Außerdem wurde ich vom Regime gesucht, weil ich an die Freiheit der Meinungsäußerung glaubte und von der anderen Seite berichtete.
Es wurde immer schwieriger für mich, Fotos zu machen, da die Komplexität des Krieges und die verschiedenen Divisionen von Bodentruppen mehr wurden. Die Präsenz von Extremisten eröffnete eine weitere Dimension im Konflikt.
Ich hatte Unterstützung von vielen Kollegen und männlichen Freunden, doch es war hart, sich frei zu bewegen und Fotos zu machen. Extremisten und Kämpfer kamen oft auf sie zu (auch auf meinen Mann), um meine Anwesenheit zu diskutieren und was ich trug. Ich hatte das Gefühl, eine Last geworden zu sein und ich wollte nicht verantwortlich dafür sein, die Menschen einem Risiko auszusetzen, um arbeiten zu können. Ich hasste diese Zeit.
Ich respektiere Menschenrechte und Meinungsfreiheit. Aber Gegendarstellungen können fatale Konsequenzen haben.
Meine ersten Konversationen über Syrien in Europa brachten mich zurück zum Anfang, ins Jahr 2011.
In den kleinen Dialogen mit Menschen in Deutschland erfuhr ich, dass manche nicht wusste, dass auf die Protestanten mit scharfer Munition und Mörsergranaten geschossen worden war oder dachten, dass ganze Städte zerstört worden seien. Aber es gab auch noch Menschen, die den Sieg des Regimes zelebrierten, indem sie die Städte wiederaufbauten, Farbenfestivals feierten und für ihre Hochzeitsfotos vor zerstörten Gebäuden posierten. Es schien kompliziert zu sein für die Leser, die Nachrichten zu verfolgen.
Manche Asylsuchenden in Deutschland entschieden sich dazu, die Narrative zu vereinfachen und die Geschichte der Stimmung und dem Asylrecht der Gastländer anzupassen. Sie beschuldigten den IS für ihre Flucht aus Syrien. Ich glaube, die Angst vor dem IS ist etwas, das du nicht erklären und nicht verhandeln musst. Es ist eine Angst, die der Westen verstehen kann. Der IS arbeitete daran, sein eigenes Image zu exportieren. Genau wie das Regime, unterstützt von Russland. Sie verbreiteten ein Bild von Syrien als einem geeigneten Ort für Tourismus. Dem Einsatz von Influencern, die gewillt waren, diesen Anspruch zu unterstützen und der Mitgliedschaft eines Syrers in der AfD, der unter Flüchtlingen für eine Rückkehr in ein sicheres Syrien warb, folgte kürzlich eine Konferenz, die angeblich Flüchtlinge einlud, zurückzukehren und das Land aufzubauen.
Indem man einheimische Journalisten unterstützt beim Schaffen der Narrative von Syrien, tut man das Richtige. Das ist das Empowerment, das wir brauchen, wenn wir nicht auf unseren eigenen öffentlichen Kanälen veröffentlichen können.
Man kann nicht helfen, aber nachdenken.
Wenn wir über Syrien reden, das nicht mehr auf den Titelseiten auftaucht, und dessen Erzählung zu der einer Flüchtlingskrise abdriftet.
Wenn die „Caesar“ Fotos und chemische Angriffe und Aussagen von Überlebenden aufgrund von aktueller Weltpolitik keine Aufmerksamkeit mehr auf sich ziehen, um eine Antwort darauf zu generieren, die die syrische Realität verändert.
Dann stellen wir uns die Konsequenzen vor, die eine anhaltende Abwesenheit dieser Beweismittel hätte, im Kontrast zu den Bildern, die die syrische Regierung, Russland und Extremisten von Syrien zeichnen.
Der Krieg und die Ungerechtigkeiten dauern an; wir können jetzt noch nicht feststellen, ob wir erfolgreich waren, mit unseren Fotos eine Narrative zu schaffen, die Syrien erklärt.
Über die Autorin: Nour Kelze
Nour Kelze, 1988 in Aleppo in Syrien geboren, hat einen Bachelorabschluss in Englischer Sprache und Literatur von der Universität Aleppo. Als ehemalige Englischlehrerin übersetzte sie für einen Fotografen von Reuters, der ihr schließlich eine Kamera gab. 2013 gewann sie den Courage in Journalism Award von der Women’s Media Foundation. Kelze ist ein Mitglied von Magnum Foundation’s Photography and Human Rights 2015.