Nachruf
Mehr Ruge wagen!
Ein deutsches Wohnzimmer in den späten Sechzigerjahren. Die Familie sitzt vor dem Fernseher: Nachrichtenzeit. Alle quatschen durcheinander. Doch dann schaltet die Tagesschau nach Washington D. C.: Der Korrespondent Gerd Ruge berichtet aus der amerikanischen Hauptstadt. Alle verstummen und hören gebannt zu. Mit nuschelnder Stimme und in lakonischem Ton erzählt der Reporter von Weltgeschichte, die sich gewissermaßen hinter ihm ereignet: von Rassenunruhen und politischen Morden, von einer aufgewühlten, tief gespaltenen Gesellschaft.
Alle vor dem Fernseher fiebern mit
Alle vor dem Fernseher fiebern mit: die Eltern, Jahrgang 1922 und 1924, die Amerika nur aus dem Fernsehen oder durch die US-Soldaten kennen; die Kinder – Jahrgang 1953 und 1956, die Amerika exotisch und spannend finden. Ruge packt sie alle. So war das damals nicht nur bei der Familie Paqué im Saarland, sondern in Millionen Haushalten der Nation. Und so war es nicht nur zu Ruges Zeit in Washington, sondern auch bei seinen späteren Stationen, vor allem in der Sowjetunion bzw. Russland, von wo er 1987 bis 1993, also zur Zeit der epochalen Wende nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs berichtete. Auf sein Konto gehen großartige Reportagen, die weltgeschichtliche Augenblicke der Politik einfingen, aber auch eine Fülle einfühlsamer Gespräche mit jenen „einfachen“ Menschen, deren Schicksal vom Weltgeschehen bestimmt wird, ohne dass sie eine Chance haben, dieses zu beeinflussen. Dabei ging es um kleine Alltäglichkeiten oder auch große Geschichte wie bei Ruges bewegender Reportage über die Spuren der Schlacht von Stalingrad, die er 1993 zum 50. Jahrestag der Schlacht vorlegte: nichts als Gespräche mit alt gewordenen Zeitzeugen, die in unmittelbarer Nähe der früheren Schlachtfelder des heutigen Wolgograd leben und mit verstörender Sachlichkeit, aber ohne Groll gegenüber den früheren Kriegsgegnern die Fragen Ruges beantworteten und im Detail berichteten.
Die Menschen vertrauten ihm
Gerade diese Gespräche waren die große Stärke von Gerd Ruge. Die Menschen vertrauten ihm, und dies zu Recht. Er nahm sie, wie sie sind und hörte ihnen zu – mit Ernst, Melancholie und auch Humor, jedenfalls stets ohne (Vor-)Urteil und ohne erhobenen Zeigefinger. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, eine Reportage oder einen Kommentar mit einer besserwisserischen Bemerkung abzuschließen. Moralisieren war ihm fremd. Er blieb eben immer der Beobachter und Chronist, der sich mit Wertungen zurückhielt, aber gleichzeitig mitfühlte und sich dies auch anmerken ließ. Damit hat er die Herzen der Menschen erobert und im Rahmen des Möglichen seinen Beitrag geleistet, die Gesellschaft zusammenzuführen. Und dies mit faktenorientiertem, also „hartem“ Journalismus. Durchdacht, hochprofessionell, bestückt mit ausdrucksvollen Bildern hervorragender Kameraleute, die ihn begleiteten.
Eine Reporterlegende
Man wünscht sich heute mehr von eben diesem Journalismus. Im Alter und wieder in den Stunden nach seinem Tod wurde er von Kolleginnen und Kollegen hymnisch gefeiert: als Reporterlegende mit warmherziger Neugier (Gerd Ruge ist tot – „ein Mensch“). Das hat er verdient. Wichtiger aber wäre noch, wenn er zum Vorbild für die nachwachsende Journalistengeneration würde. Sein Credo lautete: „Ein Reporter muss sich nicht selbst in den Vordergrund spielen.“ Das sollten sich tatsächlich viele junge Medienvertreter merken. Denn zu leicht lassen sie in den Gesprächen mit Repräsentanten von Politik und Gesellschaft sowie ganz normalen Bürgerinnen und Bürgern ihre Meinung zur Sache durchblicken – explizit oder implizit, bewusst oder unbewusst durch Gesten, Mutmaßungen und Urteile. Das nimmt so mancher Berichterstattung das Bemühen um Objektivität – bis hin zum ganz bewussten Aktivismus für eine vermeintlich gute Sache.
Genau da ist mehr Demut gefordert. Auf die Frage, ob er glaube, dass es einen Gott gibt und irgendwann ein jüngstes Gericht kommen würde, soll Gerd Ruge einmal geantwortet haben: „Ich bin Reporter. Ich warte ab.“ Das ist die Einstellung, die wir auch im modernen Journalismus brauchen. Mehr Ruge wagen!