Hungary Election Countdown
Kopf-an-Kopf-Rennen: Eine Analyse des Wahlverhaltens in Ungarn
Dániel Róna vom 21 Research Center untersucht die taktischen Aspekte der nächsten Wahlen, während Andrea Szabó vom Zentrum für Sozialwissenschaften ihre Forschungsergebnisse über unentschlossene Wähler vorstellt. Andrea Virág vom Republikon Institut präsentiert die neusten Erkenntnisse über liberale Wähler in Ungarn. Hier finden Sie eine Zusammenfssung der wichtigsten Ergebnisse der Konferenz „Wen würden Sie wählen?“, die vom Republikon Institut mit Unterstützung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit organisiert wurde.
Der mathematische Wert einer Stimme
Im ungarischen Wahlsystem mit 106 Direkt- und 93 Listenmandaten haben die Direktstimmen mehr Gewicht. Hinzukommt, dass die sogenannte „Winnner Compensation“-Regelung Direktstimmen noch wertvoller machen. Das Forschungsinstitut 21 Research Center hat eine App entwickelt (VoksMérleg, engl.VotesMeasure), die den mathematischen Wert der Stimme eines jeden Wählers ermittelt.
Bei einer Wahl machen etwa 100.000 Stimmen ein Mandat aus. Während normalerweise 10.000 – 20.000 Stimmen den Ausschlag für den einen oder die andere Kandidatin geben können, machen manchmal nur 500 Stimmen in einem Wahlkreis den Unterschied. Bei einer Persönlichkeitswahl, d. h. bei Wahlen, in denen einzelne Personen (Kandidaten) gewählt werden können, ist es deutlich einfacher, das Stimmverhalten zu beeinflussen als bei einer Listenwahl. Je nach Wahlkreis ist die Wahrscheinlichkeit, ein Mandat zu erhalten, in einigen Wahlkreisen sechsmal höher als bei einer Listenwahl, in anderen 100-mal höher. Diese Schlussfolgerungen wurden mithilfe eines mathematischen Modells auf der Grundlage von Daten von Závecz Research entwickelt. Dr. Dániel Róna, Direktor des Forschungsinstituts 21 Research Center weist aber auch darauf hin, dass Wahlen nicht nur Mathematik seien und dass Modelle nur die statistische Wahrscheinlichkeit wiedergeben können, mit welcher ein Wahlkreis gekippt werden kann. Das Modell ergibt sich aus den Besonderheiten des ungarischen Wahlsystems.
Róna argumentiert, dass die auf der Kippe stehenden Wahlkreise vor allem in den nördlichen Verwaltungsbezirken Borsod und Heves liegen, während es in Budapest sichere Mandate für die Opposition gibt. Die Mandate der noch nicht vorhersehbaren Wahlkreise werden für die Wahl entscheidend sein, denn je nachdem, wer diese Bezirke für sich entscheidet, wird auch die Wahl insgesamt gewinnen.
Zu beachten sind laut Róna auch noch andere Unverhältnismäßigkeiten im Wahlsystem. So läge beispielsweise ein Gesetzesverstoß vor, wenn die Wahlkreise trotz der Überalterung der Wählerschaft nicht geändert wurden. Auch die Tatsache, dass die durchschnittliche Einwohnerzahl der Wahlkreise, die der Opposition zugeschrieben werden, bei 77.000 läge, während die durchschnittliche Einwohnerzahl der Wahlkreise, die mit hoher Wahrscheinlichkeit für Fidesz stimmen, nur 71.000 beträgt, bedeutet, dass die Oppositionswahlkreise schlichtweg um 8 Prozentpunkte größer sind. Es wählen also mehr Menschen die gleiche Anzahl von Abgeordneten. Damit ist das rechnerische Gewicht der Wähler, die in Wahlkreisen abstimmen, in denen die Opposition favorisiert wird, geringer. Es handele sich hierbei um einen bewussten Schachzug der Regierung, der zu einem ungerechten Ungleichgewicht führt.
Dr. Dániel Róna, Politikwissenschaftler, Direktor des 21 Research Center
Die Soziologie der unsicheren Wähler
Laut Andrea Szabó vom Social Science Research Centre gibt es drei bis vier Gruppen von unentschlossenen Wählern, die sich klar voneinander abgrenzen lassen. Diese Schlussfolgerungen sind das Ergebnis einer Umfrage mit 7.000 Personen. Auffallend war, dass der Rückgang der Fidesz-Unterstützung mit dem Anstieg der Anzahl der unentschiedenen Wähler korreliert.
Allerdings ist nicht klar, für wen jene Wähler, die Fidesz den Rücken gekehrt haben, ihre Stimme abgeben werden. In der Vergangenheit konnte man feststellen, dass je näher die Wahlen rückten, desto mehr ging die Anzahl der unentschlossenen Wähler zurück und die Unterstützung für Fidesz wuchs. Laut Szabó unterscheide sich der Wahlzyklus 2014-2018 jedoch von 2018-2022. Seit Ende 2021 nahm die Unterstützung für Fidesz wieder zu und die Anzahl der Unentschiedenen ab. Somit hat die Partei die unentschlossenen Wähler zwar zurückgewonnen, allerdings bleibt die Frage offen, ob die verbleibenden Wähler für Fidesz oder die Opposition stimmen werden.
Schwierig sei es vor allem, die Gruppe der passiven Wähler zu erreichen, da dies erhebliche Infrastrukturen und Ressourcen erfordere, über die selbst die Regierungspartei Fidesz nicht unbedingt verfüge. Für die Gruppe der aktiven Parteiwähler ist es klar, für wen sie stimmen werden. Die dritte Gruppe, die in der Umfrage als aktive geheime Wähler bezeichneten Personen sind unentschlossene Wähler, die zur Wahl gehen, aber nicht wissen, welche Partei sie wählen werden. Sie werden nicht als homogene Gruppe auftreten, sondern in den letzten zwei Wochen vor der Wahl eine emotionale Entscheidung für einen der großen politischen Blöcke treffen.
Laut Szabó ist die tatsächliche finanzielle Situation der Wähler kein ausschlaggebender Faktor für das Wahlverhalten. Vielmehr liege der Schlüssel im subjektiven Einkommensempfinden. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Fidesz- und Oppositionswähler jedoch kaum. Abschließend kann man davon ausgehen, dass die Unentschlossenen mit einem Anteil von 10 bis 15 Prozent das Zünglein an der Waage werden könnten. Sie sind keine homogene Gruppe und bewegen sich nicht in dieselbe Richtung. Der aktuelle Krieg könnte alle Annahmen ändern, wobei davon auszugehen ist, dass der Kriegsschock bereits hinter uns liegt und die Wahlkampfthemen wieder zur Innenpolitik zurückkehren werden.
Dr. Andrea Szabó, Soziologin, Politikwissenschaftlerin, Senior Research Fellow und stellvertretende Direktorin am Institut für Politikwissenschaft in Zentrum für Sozialwissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften
Wie stimmt die liberale Gruppe ab?
Liberale findet man vor allem in Budapest und anderen größeren ungarischen Städten, wobei sich nur ein Fünftel der Budapester als liberal bezeichnet. Entgegen geläufiger Stereotype finden sich jedoch auch Liberale in ländlichen Gebieten. So geben mehr als 10 Prozent der Menschen, die in Dörfern leben, an, liberal zu sein.
Interessanterweise ist Fidesz die beliebteste Partei unter denjenigen, die sich als liberal bezeichnen. Der illiberale Charakter der Fidesz-Partei und ihres Vorsitzenden stört dabei nicht, was an den liberalen Elementen der Wirtschaftspolitik von Fidesz liegen dürfte. Eindeutig oppositionell sind ungarische Liberale also nicht. Fidesz sucht allerdings keinen wirklichen Kontakt zu diesen Wählern, während sich die liberale Bewegung Momentum um diese Wähler bemüht.
Auffallend ist, dass ungarische Liberale keine homogene Gruppe sind. Besonders ausgeprägt scheint laut einer Anfang 2021 durchgeführten Umfrage mit 5.000 Personen, die sich als liberal bezeichnen, eine klare Präferenz für Wirtschaftsliberalismus. Ferner unterstützen ungarische Liberale das Prinzip kostenloser Hochschulbildung. Kulturell gesehen ist es interessant, dass viele, die sich als liberal bezeichnen, gegenüber Themen wie z. B. Homosexualität konservativ eingestellt sind. In der Außenpolitik stehen die Liberalen der Europäischen Union und der Einführung der Euro-Währung positiver gegenüber. Sechzig Prozent der Befragten ziehen eine westliche Orientierung ihres Landes einer östlichen vor.
Andrea Virág, political scientist, Director of Strategy at Republikon Institute
About the authors
Republikon Institute ist ein liberales Think-Tank in Budapest, das sich auf die Analyse der ungarischen und internationalen Politik, die Formulierung politischer Empfehlungen und die Initiierung von Projekten konzentriert, die zu einer offenen demokratischen und freien Gesellschaft beitragen. Das Ziel des Instituts ist die Förderung der Diskussion über liberale Ideen und ihre Umsetzung ins Politik.
Péter Láng ist ein Praktikant bei der Republikon Institute und Bachelorstudent an der Corvinus-Universität in Budapest, wo er Internationale Beziehungen studiert. Sein Hauptinteresse liegt in der Erweiterungspolitik der Europäischen Union sowie in der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Ostmitteleuropa.
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