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Parlamentswahl
Wahlen in Tschechien – Spannend und unübersichtlich

Vorwahlbericht für die Parlamentswahlen am 08. und 09. Oktober
Andrej Babis
Der amtierende tschechische Ministerpräsident Andrej Babis bei einer TV-Debatte © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Petr David Josek

Wer meint, dass die deutsche Bundestagswahl besonders spannend und ungewiss in ihren Ergebnissen gewesen sei, hat sich noch nicht mit der heißen Wahlkampfphase in Tschechien befasst. Dort wird am Freitag und Samstag das neue Abgeordnetenhaus gewählt – der tschechische Gesetzgeber gibt den Bürgern 48 Stunden dafür Zeit. Die Umfragen sagen vor allem zwei Dinge vorher: Dass alles möglich ist, und dass die Regierungsbildung wohl arg kompliziert werden wird.

Nehmen wir die letzte Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts STEM vom Ende September. Dort bestätigt sich ein stabiler Trend, den man schon lange beobachten kann. Es gibt drei größere Parteien bzw. Wahlbündnisse, die um die Führung ringen, von denen aber keine auch nur in die Nähe einer alleinigen Regierungsbildung kommt.

Da ist zunächst einmal die Regierungspartei ANO, die immer noch die Umfragen anführt. Das Wort „Ano“ bedeutet im Tschechischen „Ja“, steht hier aber auch als Abkürzung für Akce nespokojených občanů – „Aktion unzufriedener Bürger“. Das klingt ein wenig populistisch, und ist es wohl auch. Die Partei ist völlig undenkbar ohne ihren Gründer und Chef Andrej Babiš, dem gegenwärtigen Ministerpräsidenten des Landes. Den verbinden die meisten Menschen wohl mit dem Wort „Skandal“. Davon hat er mehrere am Laufen. Babiš ist Multimilliardär. Er leitete einen Agrar- und Lebensmittelkonzern und kaufte im Laufe der Zeit noch etliche große Zeitungen dazu – nicht nur in Tschechien, sondern auch in Deutschland, wo sich die Rheinische Post in seinem Besitz befindet. Ermittlungen in Tschechien und durch die EU, dass es einen Interessenkonflikt zwischen seinen (teils durch Subventionen großgewordenen) Unternehmen und der Politik geben könne, begleiten ihn seit der Zeit, als er 2014 Finanzminister der sozialdemokratisch geführten Regierung unter Ministerpräsident Bohuslav Sobotka war. Angeblich hat er seinen Konzern einem Trust übergeben, dessen Unabhängigkeit vielfach bezweifelt wird. Hinzu kommen Untersuchungen, dass er sich möglicherweise beim Bau eines Luxus-Ferienkomplexes EU-Subventionen erschlichen hat. Zudem behaupten slowakische Behörden, Babis habe in den Zeiten des Kommunismus als Spitzel für die Staatssicherheit gearbeitet.

Keine neue Enthüllung hat der Popularität des Ministerpräsidenten unter seinen Anhängern bisher Abbruch getan. ANO hat – vor allen, weil Rentner konstant mit sozialen Wohltaten überschüttet wurden – eine extrem stabile Stammwählerbasis, weshalb sie sich über Jahre permanent zwischen rund 25 und 30% bei Umfragen behaupten konnte.

Anwalt des „kleinen Mannes“

Das liegt auch an dem populistischen Talent von Babiš, der es auch als Multimilliardär versteht, sich als Anwalt des „kleinen Mannes“ zu präsentieren. Auswärtige Beobachter werfen ihn gerne mit Populisten wie Ungarns Viktor Orbán in einen Topf – als Beweis, dass in Mitteleuropa anscheinend die Demokratie mehr oder minder außer Kraft gesetzt und durch rechtsautoritäre Tendenzen ersetzt wurde.

Doch der Vergleich hinkt. Die tschechische Demokratie ist nicht akut in Gefahr. Auch ist Babiš nicht von Ideologie getrieben, sondern ganz pragmatisch (oder opportunistisch?) von Umfragen. Wenn er in die Offensive geht, kann er gegen Migranten und jede Form von Einmischung durch die EU in „seine“ Angelegenheiten wettern. Andererseits gehört ANO im Europaparlament zur liberalen ALDE und die dortigen Abgeordneten werden weitum geschätzt. Unter ihm gab es eine Liberalisierung des Namensrechts, das bisher Frauen diskriminierte, und das Gesetz, das in Tschechien als erstem mitteleuropäischen Land die gleichgeschlechtliche Ehe einführt, passierte gerade die ersten parlamentarischen Hürden. In der Wirtschaftspolitik wird ebenfalls Widersprüchliches sichtbar. Einerseits stimmten letztens die Mehrheit der ANO-Abgeordneten für eine tschechische Lebensmittelquote von 78% im Einzelhandel (was aber schnell zurückgezogen wurde), gleichzeitig verabschiedete man aber (gegen die Stimmen des Koalitionspartners und mit denen der Opposition) eine liberale Steuerreform, die nach der Coronakrise die Unternehmen deutlich entlastete, etwas worauf man in Deutschland wohl lange warten kann. Man weiß letztlich ideologisch nie, woran man ist, aber Babiš nutzt auf jeden Fall sich bietende Gelegenheiten geschickt aus.

Babiš‘ (taktische) Prinzipienlosigkeit und seine Skandale haben aber zu Folge, dass eine sehr stabile Mehrheit der Bevölkerung ihn strikt ablehnt und sich nie in das Lager der ANO-Wähler einreihen würde, das eben nur relativ das stärkste im Lande ist.

„Piratistan“

Schon nach der letzten Wahl 2017, in der ANO erstmals stärkste Partei wurde, hatte es acht Monate gebraucht, bis eine Regierung gebildet werden konnte. Alle Parteien hatten damals geschworen, niemals Babiš zum Ministerpräsidenten zu machen. Aber auch untereinander gab es keine andere machbare Konstellation. Am Ende ließen sich die Sozialdemokraten, die nur knapp die 5%-Hürde geschafft hatten, entgegen ihren Versprechungen in eine Koalition mit ANO einbinden. Auch das reichte nicht zu einer Mehrheit, weshalb die Kommunisten als Unterstützer einer Minderheitsregierung einsprangen. Seither sind die Sozialdemokraten so sehr in die Krise geraten, dass die meisten Umfragen ihr parlamentarisches „Aus“ vorhersagen.

Und das wirft die Frage auf, wer denn nach den Wahlen am Wochenende regieren kann. Damit sind wir bei den nächsten Rivalen von ANO. Im Sommer sah es in einigen Umfragen fast so aus, als ob ein Wahlbündnis aus Piratenund STAN ANO den Rang als stärkste Partei strittig machen und Piratenchef Ivan Bartoš sogar Ministerpräsident werden könnte. Im Gegensatz zu ihrem deutschen Gegenstück haben sie sich die Piraten in Tschechien gut konsolidieren können. Sie besetzen den Platz „mitte-links“ und „modern“ im Spektrum, irgendwo zwischen sozialliberal und grün. Ihre Wähler finden sie vor allem in den Städten und dort unter den Jungen. In Prag stellen sie sogar den Oberbürgermeister. Die sie stützenden Wählermilieus scheinen zunehmend nach links zu tendieren und auf lokaler Ebene zu einer eigentumsfeindlichen Politik, insbesondere auf dem Wohnungsmarkt. Obwohl Bartoš eine eher mäßigende Linie fährt, könnte das eine nicht ungefährliche Tendenz für die Partei werden, in einem Land mit hoher und sozial breit gestreuter Wohneigentumsquote.

Da das tschechische Parteiensystem sehr fragmentiert ist (bei den Wahlen 2017 schafften neun Parteien den Einzug ins Parlament) und das Wahlsystem größere Parteien leicht bevorzugt, haben die Piraten ein Wahlbündnis mit STAN geschlossen. Das ist die Partei der Bürgermeister, die eigentlich auf lokaler Ebene verankert ist und völlig unideologisch agiert – so wie in Deutschland früher die Freien Wähler. Das Bündnis weist somit ideologische Bruchstellen auf, die vor allem Babiš in einer heftigen Negativkampagne nutzt, die vor einem als „öko-fanatisch“ beschriebenen „Piratistan“ warnt - was ein wenig nach Afghanistan als Beispiel eines „failed state“ klingt, der Tschechien werden würde, wenn die Piraten (mit STAN) an die Macht kämen.

Sternstunden des Parlamentarismus

Die Kampagne scheint ein wenig funktioniert zu haben, denn inzwischen wurde das Bündnis Piraten/STAN von dem zweiten demokratischen Oppositionsbündnis überholt, nämlich SPOLU (Gemeinsam). Gleich drei Parteien haben sich hier verbündet. Das Mitte-Rechts-Bündnis besteht aus den Bürgerdemokraten (ODS), den Christdemokraten (KDU-ČSL) und TOP09. Die ODS war lange die große Volkspartei des Landes. Das Profil ist wirtschaftsliberal und war unter ihrem Gründer, dem Ex-Präsidenten Vacláv Klaus, lange Zeit recht rüde euroskeptisch eingestellt. Klaus hat die Partei vor langer Zeit im Streit verlassen und seitdem hat sich die Partei unter ihrem Vorsitzenden Petr Fiala ein gemäßigteres Profil zugelegt. Dann sind da noch die beiden dem europäischen Volkspartei-Lager zugerechneten Parteien, von denen die KDU-ČSL die sozialkonservativere (das Attribut „christlich“ bedeutet da noch etwas) und die TOP09 die etwas liberalere ist. Auch hier sind Bruchlinien vorgezeichnet.

Ab und an gab es in den letzten Monaten Umfragen, in denen ein Bündnis der beiden Bündnisse sogar die Mehrheit hätte erringen können. Dass sich dieser Trend nicht dauerhaft durchsetzt, obwohl er für die meisten Tschechen der konsequenteste Schritt zu demokratischer Stabilisierung und der Bereinigung der als korrumpiert wahrgenommenen politischen Kultur sein dürfte, mag daran liegen, dass eine so gebildete, letztlich aus fünf Parteien bestehende Regierung als potentiell instabil und zerrissen wahrgenommen wird.

Dabei haben die beiden Bündnisse im vergangenen Jahr durchaus gezeigt, dass sie als Opposition gemeinsam sehr gut und vor allem konstruktiv kooperieren können. Der durch das unzuverlässige Agieren der Kommunisten instabilen Regierungskoalition konnte man wichtige Konzessionen abringen, bei der Bekämpfung der Covid-19-Seuche stärker auf die Bürgerrechte zu achten. Vergleicht man das Ganze mit der Schwächung der Macht des Bundestags in Deutschland in dieser Zeit, konnte man in Tschechien geradezu einige Sternstunden des Parlamentarismus bewundern.

Brechen die Tabus?

Trotzdem sagen die Umfragen seit einiger Zeit recht konsistent voraus, dass es das Bündnis Piraten/STAN (letzte Umfrage 17,4%) und SPOLU (21,4%) nicht zur absoluten Mehrheit bringen wird. Ebenso konsistent sagen sie voraus, dass ANO der sozialdemokratische Koalitionspartner (4,5%) abhandenkommen könnte. Das führt seither zu Spekulationen, Ministerpräsident Babiš könne das tun, wozu ihm der oft recht autoritär und erratisch agierende Präsident des Landes, Miloš Zeman, schon 2017 riet, nämlich eine Koalition mit den (immer noch orthodoxen) Kommunisten (die allerdings mit einem 5%-Umfragewert auch um ihre parlamentarische Existenz zittern) und der rechtsradikalen Partei für Freiheit und Direktdemokratie (SPD) des Halbjapaners Tomio Okamura zu bilden, die dank einer recht professionellen Kampagne mittlerweile bei 12,5% gehandelt wird. Das wäre eine Schreckensvorstellung. Ob Babiš grundsätzliche moralische Bedenken gegen solch eine Koalition hat, ist unklar, aber sie würde ihm sicher bei seinen Konflikten mit der EU wegen seiner Skandale zur veritablen Zusatzbelastung werden. Er wird das wohl vermeiden wollen. Da aber alle anderen Parteien außer der bedrohten Sozialdemokratie (ČSSD) ein Bündnis mit Babiš rigoros ausschließen, dürfte er zunächst Schwierigkeiten haben, überhaupt eine Regierung zu bilden. Seine Gegner aber auch. Denn Präsident Zeman hat in einem recht selbstherrlichen Akt der Politikeinmischung verkündet, dass er niemanden anderen als Babiš mit der Regierungsbildung beauftragen werde, da der ja die stärkste Partei führe. Damit dürfte der Spielraum der demokratischen Opposition, bei der Regierungsbildung selber das Heft in die Hand zu nehmen, gering werden. Blockaden sind vorhersehbar. Aber auch Risse in den Bündnissen, die Blockaden – zu welchem Preis? - aufbrechen könnten. In der größten Partei von SPOLU, der ODS, haben einzelne Abgeordnete schon angedeutet, dass sie sich eine Koalition mit ANO im äußersten Notfall vorstellen könnten, um eine extremistische Koalition von ANO, SPD und Kommunisten zu verhindern. Bis jetzt verbindet man das immer mit der Bedingung, dass sich ANO aber von ihrem Vorsitzenden Babiš trennen müsse. Da ANO elektoral (und auch finanziell) von ihrem Zugpferd abhängig ist, erscheint das als eine höchst unwahrscheinliche Idee. Aber nach der Wahl könnte eben irgendwann der Druck zur Bildung einer funktionstüchtigen Regierung so wachsen, dass bisher gepflegte Tabus brechen.

Populistische Kampagne

Ministerpräsident Babiš scheint zurzeit jedenfalls fast alles recht zu sein, was ihn weiter an der Macht hält. Er scheint erkannt zu haben, dass er aus den Wählermilieus der Mitte (der er objektiv gar nicht so fern steht) keine Stimmen mehr gewinnen kann, weil hier eine besonders ausgeprägte Anti-Stimmung gegen ihn herrscht. Im populistischen und rechten Segment herrscht hingegen zur Zeit eine hohe Volatilität, von der er profitieren könnte. Von der rechtsradikalen SPD hat es im Laufe der Legislaturperiode etliche Abspaltungen gegeben. Wie ein Komet schoss vor kurzem eine neue populistische (nicht rechtsradikale) Partei namens Přísaha (Der Schwur) in den Umfragen empor, die als Anti-Partei von einem Ex-Polizisten namens Róbert Šlachta gegründet wurde, der sich als Korruptionsbekämpfer einen Namen gemacht hatte. Er könnte sich, so Mutmaßungen in der Presse, ANO als Koalitionspartner andienen. Inzwischen ist sein Stern in den Umfragen allerdings wieder im Sinken begriffen.

Babiš hat daher in der Endphase seines Wahlkampfes seine populistischen Talente voll ausgespielt. Gegner werden aggressiv attackiert. Wohl an die Adresse von „Piratistan“ (das er aus taktischen Gründen mehr angreift als den vage potentiellen Partner SPOLU) spielt er Werbespots, in denen er warnt, dass nur er verhindern könne, dass die EU die Wochendhütte (Chata) der Oma enteignet, um dort Migranten unterzubringen – eine absurde Forderung, die wirklich niemand in Tschechien oder der EU erhoben hat. Ein Treffen mit Viktor Orbán im Wahlkreis Ustí nad Labem, zu dem er kritische Pressevertreter nicht einlud, heizte die Stimmung weiter an. Ob diese ausgesprochen unschöne Art des Wahlkampfs wirklich bei den Wählern am rechten Rand verfängt, weiß man nicht. Auch nicht, ob es nicht seine Stammwähler vergrault. Dass ANO im August noch mit 32,3% in den Umfragen geführt wurde, während jetzt nur noch 27,4% drin zu sein scheinen, spricht für letztere Annahme. Zudem sind Presse und Opposition ihm auf den Fersen, weil die kürzlich aufgetauchten Pandora Papers ihm gerade einen neuen Steuerhinterziehungsskandal einzubringen scheinen.

Warten wir's ab...

Am Ende gibt es nur wenige Gewissheiten. Nur eines ist sicher, nämlich, dass geringste Verschiebungen gegenüber den Umfragewerten radikal andere Konstellationen hervorbringen können. Eine Koalition der linken und rechten Mitte (SPOLU/Piraten/STAN)? Eine extremistische Koalition (ANO, SPD, Kommunisten)? Eine seltsame Allianz von bisherigen Erzgegnern - ANO/ODS? Eine Koalition zweier prinzipienarmer Populisten - Babiš/Šlachta? EineWiederbelebung der bisherigen Koalition, falls es die Sozialdemokraten doch noch gerade über die 5%-Hürde schaffen? Alles ist drin. Wir werden das Endergebnis abwarten müssen, um wenigstens zu wissen, was für Möglichkeiten rechnerisch überhaupt bestehen, die dann erst in sehr langen Verhandlungen und Sondierungen sich als realisierbar erweisen können Es geht jedenfalls um handfeste Richtungsentscheidungen. Tschechien sieht, soviel ist sicher, einem spannenden Wahlabend entgegen.

Dr. Detmar Doering ist Projektleiter der Friedrich-Nauman-Stiftung für die Freiheit für Mitteleuropa und die baltischen Staaten mit Sitz in Prag.