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Grosse Träume sind wichtig
Die Syrische Menschenrechtsaktivistin Ravda Nur Cuma glaubt daran, dass Bildung Leben retten kann. Sie ist Befürworterin, dass Flüchtlingsmädchen wieder zur Schule geschickt werden, um somit Frühehen zu vermeiden.
Als Kind träumte Ravda Nur Cuma davon, Ärztin zu werden. Sie war gut in der Schule und hatte keine Angst vor Blut, so dass sie sich vorstellte, sie würde Operationen durchführen, die Leben retten. Das alles war vor dem Krieg, der ihr Haus zerstörte und den Werdegang ihrer Zukunft änderte. Zehn Jahre später, mit 23, möchte diese junge syrische Frau Ärztin des Friedens werden. Tatsächlich rettet sie Leben, indem sie Flüchtlingsmädchen vor der Falle einer Kinderehe bewahrt.
Noch während ihres Studiums der internationalen Beziehungen an der Hasan Kalyoncu Universität leitete Ravda ihre eigene Stiftung und half Familien in Flüchtlingslagern, ihren Töchtern eine bessere Zukunft über die Bildung zu ermöglichen. Bis heute hat die RavdaNur Stiftung mehr als 40.000 Kinder in der Schutzzone Euphrat und 3000 in Gaziantep unterstützt, damit sie zurück zur Schule können.
Sie versucht ebenso, Syrier über die Grenzen hinaus zu unterstützen und arbeitet hierzu mit dem Internationalen Blauen Halbmond als Hilfskoordinatorin für Nordostsyrien zusammen, um das Gebiet unter türkischer Kontrolle mit Trinkwasser und einfacher Gesundheitspflege zu versorgen.
Für hre Arbeit und Hingabe wurde sie 2020 mit dem “Peacebuilder” Preis der in Washington DC befindlichen HasNa Organisation ausgezeichnet.
Ravda ist eine unermüdliche Verfechterin der Menschen- und Flüchtlingsrechte und hat sich für diese Themen schon im Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York und im Europäischen Parlament stark gemacht. Menschen zu helfen ist der Hauptantrieb für ihre humanitäre Arbeit und ihr Privatleben.
Mit blossen Füssen
Ravda Nur Cuma wuchs als Mittelkind einer Familie mit neun Kindern in İdlib auf. Ihr Vater war Geschäftsmann. Ihre Mutter war Hausfrau und kümmerte sich um die Familie und den Garten, indem jedes Kind seinen eigenen Baum hatte, der für sie vom Vater gepflanzt wurde.
Die Bildung war Toppriorität in ihrer Familie und Ravda’s Vater stellte sicher, dass sie und ihre Schwester eine gute Privatschule besuchten.
Als der Krieg ausbrauch war Ravda 13 Jahre alt. Eines Abends zum Ende des Jahres 2011 kam der Vater ins Erdgeschoss und forderte die Familie auf sich fertig zu machen, um das Haus zu verlassen. Sie packten ein paar warme Klamotten, holten sich ihre Pässe und Ausweise und verliessen ihr Haus Mitten in der Nacht zu Fuss in Richtung Berge.
Ravda erinnert sich an das Chaos auf den Strassen, den Lärm der sich annähernden Tanker, die weinenden Frauen, die barfuss umherrennenden Kinder und Menschen, die aus ihren Häusern fliehen. Ihre Familie lief vier Stunden lang zu Fuss an die türkische Grenze, wo die türkische Armee sie in Richtung eines Zeltlagers verwies. “Als wir alles hinter uns liessen, dachte mein Vater, dass die Krise in paar Monaten zu Ende gehen und wir zurückkommen würden. Unser Haus haben wir seitdem nie wiedergesehen”, sagt Ravda.
Ravda passte sich langsam und ungern an ihr neues Zeltleben an und nahm sich den Ratschlag ihres Vater’s zu Herzen, während ihrer Zeit hier Türkisch zu lernen. Es würde ihr nützen, sagte er, auch wenn sie wieder nach Syrien zurückkehren sollten. Ebenso wollte er seine Kinder von den Strapazen des Flüchtlingslebens ablenken, indem er ihnen Aufgaben zu verrichten gab.
Ravda lernte schnell und binnen zwei Monaten war sie die Beste in ihrer Türkischklasse und holte sich das Lob des Leiters des Flüchtlingslagers. Bald darauf wurde ihre Familie in ein Containercamp bei Kilis umgesiedelt, wo sie bessere Lebensbedingungen vorfanden und die Kinder zur Schule gehen konnten.
Inzwischen war Ravda auf der Sekundarschule und bemerkte, dass ihre Klassengefährtinnen nicht mehr zum Unterricht kamen. Sie wurden entweder verheiratet oder auf die Arbeit geschickt.
“Aufgrund der finanziellen Lage und einer ungewissen Zukunft dachten viele syrische Familien, sie müssten ihre Töchter in jungem Alter verheiraten, um ihre Sicherheit zu gewährleisten”, erklärt Ravda. “Ich wollte kein solches Leben. Der Gedanke, mit 14 Jahren zu heiraten und Kinder auf die Welt zu bringen, obwohl ich selbst noch Kind war, zerstörte meine Träume. Mein Vater sagte mir aber immer: “Keine Sorge, ich werde mein Bestes geben für Deine Bildung. Obwohl wir jetzt Flüchtlinge sind, ich werde mein Bestes geben.”
Ihre Familie wurde auch angehalten, sie zu verheiraten, doch Ravda’s Vater gab diesem Gruppenzwang nicht nach. Er gab seiner Tochter die Freiheit, für sich selbst zu entscheiden.
Anstelle sich entmutigt und niedergeschlagen zu fühlen, entschied sich Ravda, mit diesen Familien zu sprechen, um sie von der Wichtigkeit der Bildung zu überzeugen. Einige schlugen ihr die Tür ins Gesicht, andere hörten ihr zu, sagten aber, sie hätten nicht den Mut. Einige konnte sie aber davon überzeugen, dass die Schule ein sicherer Ort für ihre Töchter und die Bildung der einzige Ausweg ist.
Erzähl Deine Geschichte - laut und deutlich
Ihre harte Arbeit auf der Schule fand Anklang und Ravda erhielt die türkische Staatsbürgerschaft und ein Stipendium für die Hasan Kalyoncu Universität. “So viele Menschen fragten meinen Vater, ob er denn seine Tochter tatsächlich in eine andere Stadt schicke und er antwortete: Ja, ich bin stolz auf meine Tochter und vertraue ihr”, erinnert sich Ravda.
2016 liess sie ihre Stiftung eintragen, welche die Bildung von Flüchtlingsmädchen unterstützt. Neben ihres Studiums arbeitete sie, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Mit ihrem ersten Gehalt mietete sie eine Wohnung in Hatay (türkische Provinz an der syrischen Grenze), um ihre Eltern aus dem Lager zu holen. “Als ich ihnen Bescheid sagte, meinte meine Mutter. “Du bist Deine eigene Mutter. Wir sind nicht Deine Familie. Du bist unsere Familie.” Und dann sagte mein Vater: “Nie hätte ich es mir erträumen können, dass ich nach vier Jahren im Lager zwischen vier Wänden leben werde”, erinnert sich Ravda liebevoll.
Die junge Frau nahm ihre Schwestern bei sich auf, damit sie bei ihr wohnen und der Schule nachgehen. Die jüngere Schwester träumt davon, Volleyballspielerin zu werden, während die ältere Flugzeugingenieurwesen studiert. “Meine Schwestern inspirieren mich”, sagt Ravda. “Sie sind starke und erfolgreiche Mädchen, die um ihr Leben kämpfen können und keine Hilfe von Männern benötigen.”
Was ihre eigene Zukunft angeht, hofft Ravda, dass sie eines Tages bei der Wiederherstellung Syriens und seiner Gesellschaft mitwirken kann. Nach ihrem Abschluss in Internationalen Beziehungen würde sie gerne einen Masterstudiengang zur Politik des Mittleren Ostens belegen.
Zur Zeit arbeitet sie auch als grenzüberschreitende Koordinatorin bei der IBC (International Blue Crescent Relief and Development Foundation), einer Nichtregierungsorganisation im Bereich Nachhaltigkeit- und Entwicklungsprojekte für den unter der Kontrolle der Türkei befindlichen Teil Syriens. “Ich bin dieser Stiftung wirklich dankbar, dass sie an mich glauben. Ich übernehme jetzt auch Projekte innerhalb Syriens. Ich verbessere und entwickle mich weiter und sehe mein Land wieder. Ich verspüre Hoffnung, da ich jetzt wieder in mein Land kann und etwas für die Menschen dort tun kann. Und eines Tages, so hoffe ich, wird wieder Frieden einkehren in mein Land”, wünscht sich Ravda.
Obwohl sie immer noch auf der Universität ist, nutzt sie jede Gelegenheit, öffentlich darauf aufmerksam zu machen, dass jeder Flüchtling Zugang zur Bildung verdient.
Als Ravda zum Erwerb der englischen Sprache an einem Austauschprogramm in die USA teilnahm, nutzte sie diese Zeit, ihre Ideen zu verfechten und sprach sogar beim Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York vor.
“Ich hatte schon immer grosse Ziele. Ich sagte meinem Vater immer, dass ich eine starke Frau sein und etwas verändern möchte. Staatschefs der Welt darüber zu informieren, was Millionen von Mädchen jeden Tag an Problemen erfahren, war demzufolge ein grosser Erfolg, und ich muss einfach so weitermachen. Ich kann nicht stoppen, ich bekomme auf den sozialen Medien viele Nachrichten von Mädchen, die möchten, dass ich weiterhin ihre Geschichten erzähle - laut und deutlich”, fügt Ravda hinzu.
Die Menschenrechtsaktivistin glaubt, dass es sehr wichtig für Flüchtlinge ist, sich selbst zu repräsentieren, öffentlich zu hinterfragen, warum der Krieg passierte, ihre Meinung zu sagen und selber Lösungen zu finden, auch wenn sie auf Ignoranz und Misstrauen stossen.
“Einmal hat mich jemand auf Instagram gefragt: glaubst Du wirklich, dass Du als syrische Frau etwas bewerkstelligen wirst?”, erinnert sich Ravda. “Ich war total sauer, denn Mädchen wachsen mit diesen hasserfüllten Worten auf, mit der Idee, dass ein Mann stärker ist als eine Frau, dass sich die Frau in einem anderen Zimmer aufhalten soll während der Mann fertigisst, damit sie dann selbst essen kann. Meine Familie war anders, aber auch diesen Ansichten ausgesetzt, weil sie in einer Gesellschaft lebte, die an all das glaubt. Wir Frauen müssen etwas ändern. Darauf warten, dass jemand kommt und uns rettet, führt zu nichts.”
Ravda fügt hinzu, dass sie sich schon immer als Feministin gesehen hat. Eines ihrer inspirierenden Vorbilder ist die für ihre humanitäre Arbeit bekannte Schauspielerin Angelina Jolie.
Lachend teilt sie die Geschichte, wie sie eine Gelegenheit, Angelina Jolie persönlich zu treffen, verpasst hat, als die Schauspielerin ihr ehemaliges Flüchtlingslager besuchte. Zu der Zeit befand sich Ravda in einer anderen Stadt und war so enttäuscht, dass sie Angelina Jolie nicht sehen konnte. “Ich bewundere sie sehr. Sie gibt mir immer Kraft. Wenn ich ihr Gesicht sehe, sehe ich der Zukunft hoffnungsvoll entgegen”, gibt Ravda zu.
Ein sicherer Raum für jede Frau
Obwohl Ravda in der Türkei ein gutes Leben führt und mit ihrer Arbeit viel bewegt, erfährt sie immer noch sehr viel Diskriminierung und sogar Hass als Flüchtling, die in einem fremden Land lebt.
Nach einer TV Aufführung wurde sie verbal von einem weiblichen Mitglied einer politischen Partei in der Türkei attackiert, was viele hasserfüllte Mitteilungen und sogar Bedrohungen in den sozialen Medien gegen sie zur Folge hatte.
Ravda’s Reaktion war es, gegen die Diskriminierung laut und deutlich zu werden, die Komplexität des Syrienkrieges versuchen zu erklären und wie sich Flüchtlinge dieses Leben nicht ausgesucht haben. “Viele Plattformen geben falsche Informationen über Flüchtlinge weiter, um ein falsches Bild zu schaffen. Sie sagen, dass syrische Studenten und Studentinnen einen Platz an Universitäten bekommen ohne Aufnahmeprüfung und sehr rasch an gute Stipendien kommen. Ich sage die Wahrheit, und zwar wie hart es für Syrier ist, zur Schule zu gehen, dass das Leben eines jeden syrischen Flüchtlings zerstört ist”, sagt Ravda.
Was ihr in diesen schwierigen Zeiten hilft und Mut schafft, ist das Zusammenkommen mit Kindern aus den Flüchtlingslagern. Sie lächeln immer und sind voller Hoffnung trotz der Not.
“Wann immer ich in meinem Leben schwierige Zeiten durchlebe, erinnere ich mich an die Winterzeit im Flüchtlingslager, wenn mir kalt war. Manchmal hatten wir nichts zu essen. Doch jetzt unterstütze ich meine Familie, ich kümmere mich um meine Schwestern, damit sie zur Schule gehen können und ein gutes Leben führen. Ich versuche ein gutes Vorbild für jedes Mädchen zu sein”, fügt sie hinzu.
Ihr Ziel ist es, weiterhin eine grosse Anzahl an Mädchen und Kindern bei ihrer Bildung zu unterstützen. Ebenso hofft sie, mit ihrer Arbeit Frauen in Afghanistan, Pakistan und anderswo zu helfen.
“Jede Frau braucht einen sicheren Raum und hat das Recht, Teil der Gesellschaft zu sein. Mir müssen einen Raum für diese Frauen in Afghanistan schaffen, so dass sie Teil der Gesellschaft werden”, führt Ravda aus und schliesst ab: “Mein Ziel ist es, mich voll und ganz für Menschenrechte einzusetzen. Wir wurden nicht als Flüchtlinge geboren, und der Krieg in unserem Land ist nicht unsere Schuld. Ich möchte, dass man uns als Menschen sieht und nicht als irgendeine Zahl. Jeder hat seine eigene Geschichte. Jeder Flüchtling braucht eine Chance im Leben.”
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Read here the short interview
Documentary Film
Discover more about Ravda Nur Cuma from the documentary film “Life flourishes again...Hope has the power to transcend all disasters” by Coşkun Aral.
A product of the “European Cities Network on Migration” project was the documentary directed by the famous producer Coşkun Aral. Four immigrants from four countries (Turkey, Greece, Spain and Germany) share their journeys starting from the first day when they left their homes, the difficulties they have experienced, the opportunities they have seen, their transformations and their aspirations. The project was organised by the European Liberal Forum with the support of the Turkish Office of Friedrich Naumann Foundation for Freedom.