Pakistan
Humanitäre Krise in Pakistan: Afghanische Flüchtlinge vor drohender Deportation
Während die internationale Öffentlichkeit mit Entsetzen auf die Ereignisse in Gaza schaut, geht das Leid tausender Flüchtlinge und Vertriebener aus Afghanistan weitgehend unbemerkt weiter.
Der mehr als 40 Jahre andauernde Konflikt in Afghanistan hat UN-Angaben zufolge dazu geführt, dass ca. 5,7 Mio. Menschen seit der sowjetischen Invasion 1979 ihre Heimat verlassen mussten. Die überwiegende Mehrheit (90 %) kam in den verschiedenen Phasen des Konfliktes in den Nachbarländern Iran und Pakistan unter. An dritter Stelle liegt Deutschland mit rund 400.000 Personen (Bundesamt für Statistik).
Für das Nachbarland Pakistan ist das eine starke Herausforderung. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zählte Ende 2022 rund 1,3 Mio. offiziell registrierte afghanische Flüchtlinge in Pakistan sowie 427.000 Afghanen in „flüchtlingsähnlicher Situation“. Neben diesen 2,2 Mio. offiziell registrierten Flüchtlingen gibt es internationalen Menschenrechtsorganisationen zufolge noch einmal rund 1,7 Mio. Flüchtlinge und Vertriebene ohne gültige Papiere in Pakistan. Das Nachbarland, das aktuell selbst mit multiplen Krisen kämpft und kaum die Grundbedürfnisse seiner eigenen, schnell wachsenden Bevölkerung decken kann, kann sich um diese 4 Mio. Menschen nicht ohne internationale Unterstützung kümmern. UN-Organisationen, aber auch die GIZ und andere internationale Organisationen leisten deshalb seit Jahren den Flüchtlingen Hilfe, vorwiegend in den Grenzprovinzen Beluchistan und Khyber Pakhtunkwa.
Als der pakistanische Interims-Innenminister Bugti am 3. Oktober bekannt gab, dass Pakistan alle Ausländer ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung nach dem 1. November deportieren würde, falls sie das Land nicht vorher freiwillig verlassen würden, konnte er deshalb in der pakistanischen Öffentlichkeit mit Zustimmung rechnen. In einer zweiten Phase, so Bugti, würde man auch Ausländer mit legalem Aufenthaltstitel ausweisen.
Seit Machtübernahme der Taliban in Kabul hatte sich die Flüchtlingssituation in Pakistan weiter verschärft
Es war klar, dass sich diese Ankündigung in erster Linie an die 1,7 Mio. Afghanen ohne Aufenthaltsgenehmigung richtete. Die pakistanischen Behörden übten sofort verstärkten Druck auf die im Lande lebenden Afghanen aus, führte Polizei-Razzien, Festnahmen und Hausdurchsuchungen durch, wie lokale Menschenrechtsorganisationen berichten. In Islamabad rissen die Behörden informelle Wohnviertel afghanischer Flüchtlinge schon vor dem Ablauf der Frist am 1. November ab. UNO und lokale Menschenrechtsorganisationen kritisieren das Vorgehen der pakistanischen Behörden als inhuman. Die Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation HRCP (Human Rights Commission of Pakistan) Hina Jillani schrieb in einem offenen Brief an UN-Generalsekretär Guterres und UN-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk, dass diese harte Entscheidung der pakistanischen Regierung eine humanitäre Krise auslösen könne und forderte die UN auf, sich für einen Verbleib und entsprechenden Schutz der Flüchtlinge einzusetzen.
Seit der erneuten Machtübernahme der Taliban in Kabul im August 2021 hatte sich die Flüchtlingssituation in Pakistan weiter verschärft. Zusätzlich zur jüngsten Flüchtlingswelle wird auch die Ausreise der sog. „Ortskräfte“ und „besonders schutzwürdiger Personen“, die auf den Ausreiselisten westlicher Staaten stehen, über Pakistan abgewickelt. Hunderte von ausreisewilligen Afghaninnen und Afghanen, die auf diesen Listen stehen, sind in Islamabad in günstigen Hotels, Gästehäusern und Mietwohnungen – teilweise schon seit vielen Monaten – untergebracht und warte auf ihre Visa. Bei den Konsularabteilungen westlicher Botschaften herrscht deshalb extremer Andrang. Viele Botschaften – auch die deutsche - setzen zusätzliches Personal ein, um sich speziell um die Bearbeitung der Visa-Anträge dieser Personengruppe zu kümmern. Pakistan hatte dieser Personengruppe übergangsweise zeitlich befristete Visa bis zum Abschluss ihrer Visa-Verfahren und Weiterreise in ein Drittland gegeben. Bei vielen Menschen sind diese befristeten Aufenthaltsgenehmigungen inzwischen abgelaufen, ihre Aufnahmeverfahren bei den Botschaften sind aber noch nicht abgeschlossen. Auch diese Menschen sind deshalb jetzt von einer möglichen Deportation bedroht.
Die aktuelle Situation hat bei den pakistanischen Behörden, aber auch der einheimischen Bevölkerung verstärkt zu Spannungen geführt. Die positive Grundstimmung zur Machtübernahme der Taliban vom August 2021, als der damalige pakistanische Premierminister Imran Khan Afghanistan „zur Befreiung von den Ketten der Sklaverei“ gratulierte, ist inzwischen verflogen. Denn es kamen nach der Machtübernahme der Taliban nicht nur 600.000 neue Flüchtlinge ins Land, sondern die Sicherheitslage in Pakistan selbst hat sich seit August 2021 merklich verschlechtert. Befürchtungen, dass ein Taliban-geführtes Afghanistan Terrorgruppen, die aus Afghanistan heraus in Pakistan operieren, Auftrieb geben würde, haben sich bisher leider bewahrheitet. Die Anzahl von Terroranschlägen in Pakistan hat sich in den letzten Monaten deutlich erhöht. Pakistanische Taliban dringen verstärkt von Afghanistan aus in die grenznahen Gebiete Pakistans ein und destabilisieren dort die labile Sicherheitslage. Es ist deshalb bereits zu Spannungen zwischen den beiden Nachbarstaaten gekommen. Es gab Schusswechsel zwischen Grenztruppen und die pakistanische Luftwaffe hat bereits Einsätze gegen Ziele in Afghanistan geflogen, um Terrorgruppen in ihren Rückzugsgebieten zu schwächen.
Regierung versucht mit Ausweisung von Flüchtlingen Handlungsfähigkeit zu beweisen
Es ist aber nicht allein die angespannte Sicherheitslage, für die die pakistanischen Behörden afghanische Migranten mitverantwortlich machen. Pakistan durchlebt aktuell eine schwere Wirtschaftskrise, die den Menschen mit einer Inflation zwischen 30-40%, Energieknappheit und Devisenmangel schwer zu schaffen macht. Der Wechselkurs der pakistanischen Rupie war in den letzten Monaten gegenüber dem Dollar abgestürzt. Für diesen Kursverfall und den Devisenmangel machten Regierungsvertreter auch Schmuggel und illegale Währungsmanipulationen mitverantwortlich, mit denen informelle Devisenhändler durch das sog. Hawala-System Devisen von Pakistan aus in das wirtschaftlich isolierte Afghanistan transferieren sollen.
In dieser komplexen Lage versucht die Interimsregierung, mit der Ausweisung von Flüchtlingen Handlungsfähigkeit zu beweisen. Für die Mehrheit der betroffenen afghanische Flüchtlinge macht diese Entscheidung ihre Lebensumstände noch prekärer. Viele von ihnen leben schon seit Jahrzehnten oder sogar in der zweiten oder dritten Generation in Pakistan. Sie kennen ihre alte Heimat Afghanistan kaum oder gar nicht und haben auch kein Zuhause, wohin sie zurückkehren könnten. Insbesondere für Frauen oder gefährdete Berufsgruppen wie Journalisten, Künstler und Musiker ist eine Rückkehr nach Afghanistan riskant. Inwieweit die Rückkehrer aus Pakistan in Afghanistan, das erst im Oktober von verheerenden Erdbeben heimgesucht wurde, eine Bleibe finden können, ist sowieso mehr als ungewiss. Presseangaben zufolge haben inzwischen zwischen 160.000 – 200.000 Menschen Pakistan in Richtung Afghanistan verlassen. Es ist aber davon auszugehen, dass die Mehrheit der in Pakistan lebenden Flüchtlinge aus Afghanistan die Illegalität in Pakistan einer Rückkehr vorziehen werden, weil sie in ihrer alten, weitgehend unbekannten Heimat überhaupt keine Perspektive haben.