China Bulletin
Sind Drachenjahre wirklich goldene Jahre?
In Ostasien ist der Drache ein Glückssymbol. Das Jahr 2024 steht im chinesischen Tierkreiszeichen des Drachen, die Menschen hoffen auf ein besonders erfolgreiches und glückliches Jahr. Aber Drachenjahre bringen auch Herausforderungen mit sich.
Seit Anfang Februar sah man auf den Straßen Taipeis vermehrt rot gekleidete Menschen. An Straßenständen gab es rote Quadrate mit Glück bringenden Schriftzeichen. Und es gab überall Drachen: auf Kaffeebechern, als Statuen am Straßenrand, als Dekoration im Schaufenster. Denn Mitternacht am 10. Februar begann mit Feuerwerk und Böllern ein neues Mondjahr, das Jahr des Holz-Drachen.
Während wir in Deutschland ein Jahr in 12 Tierkreiszeichen einteilen und sie Sternzeichen nennen, wird im ostasiatischen Kulturraum ein ganzes Jahr einem Tier und einem Element zugeordnet. Die Eigenschaften dieses Tieres gelten dann in Ostasien gleich für ein ganzes Jahr.
Viele Schlagzeilen zum Jahr 2024 beschäftigen sich mit den Krisen in der Welt, mit dem Superwahljahr 2024 oder mit der zunehmenden Bedrohung der Demokratie. In Ostasien ist der Blick auf das gerade angebrochene Jahr positiver. Drachenjahre gelten als „goldene Jahre“. In einem Drachenjahr soll sich Schlechtes zum Guten wenden, und es sollen sich besonders viele Chancen auf Erfolg, Reichtum und Glück bieten.
Wir verbinden mit Drachen eher Märchen von furchterregenden, feuerspeienden Lindwürmern und ihren mutigen Bezwingern. In Ostasien hingegen sind Drachen Symbole für Glück, Stärke, Weisheit und Macht. Der Drache ist auch das traditionelle Symbol des chinesischen Kaisers.
Die Flagge der Qing-Dynastie, der letzten Kaiserdynastie in China, zeigte einen Drachen. Der sagenumwobene erste chinesische Kaiser Huang Di soll nach seinem Tod auf einem Drachen in den Himmel geflogen sein. Der erste Kaiser der Han Dynastie, Liu Bang, behauptete, Sohn eines Drachen zu sein. Das sollte seinen Herrschaftsanspruch festigen. Noch heute bezeichnen sich Angehörige der Han-Ethnie in China, die die Mehrheit der Bevölkerung der Volksrepublik stellt, oftmals als „Nachkommen des Drachen“. Die mystische Kreatur hat in China nicht nur eine glücksbringende Konnotation, sondern auch eine identitätsstiftende Dimension.
Im Zeichen des Drachen soll alles gelingen
Um möglichst viel von der „Drachen-Energie“ zu profitieren, planen viele Menschen in Ostasien wichtige Lebensereignisse für ein Drachenjahr ein. Dann werden beispielsweise deutlich mehr Ehen geschlossen. Ob diese Ehen dann auch länger halten? Dazu gibt es keine Statistiken.
In einem Drachenjahr wird nicht nur mehr geheiratet – es kommen auch mehr Kinder auf die Welt. Denn Menschen, die in einem Drachenjahr geboren wurden, sollen auch alle positiven Eigenschaften des Drachen in sich vereinen. Sie sollen besonders klug, charismatisch, und erfolgreich sein. In den Geburtsstatistiken zeigt sich die Präferenz für Drachenkinder sehr deutlich. Gemieden wird dagegen das Tigerjahr, denn Tiger gelten als Unglücksbringer bei Hochzeiten, Beerdigungen und anderen Feierlichkeiten. In Tiger-Jahren werden deutlich weniger Kinder geboren. Zwei Jahre nach dem Tigerjahr kommt das Drachenjahr: die Geburtenraten steigen frappant. Alle wollen ein Drachenbaby.
Eltern hoffen, ihren Kindern durch das Timing der Geburt viele Talente und die erstrebenswerten Eigenschaften des Drachen in die Wiege zu legen. Tatsächlich hat eine Untersuchung der University of Wisconsin herausgefunden, dass in China Kinder, die im Drachenjahr geboren wurden, bessere schulische Leistungen erbrachten. Die Studie zeigte aber auch, dass das vor allem daran lag, dass die Eltern mehr Zeit und Geld in diese Kinder investierten. Zudem wurde Drachenkindern von klein auf ein hohes Selbstbewusstsein mitgegeben - eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Drachenjahre bringen auch Herausforderungen
Der starke Geburtenanstieg, den ein Drachenjahr mit sich bringt, ist in Taiwan, Singapur oder China sehr willkommen. Alle haben mit sinkenden Geburtenraten und einer alternden Gesellschaft zu kämpfen. Gleichzeitig sind solch abrupte Steigerungen Herausforderungen Systeme, die sich eigentlich auf immer weniger Kinder einstellen. In Drachenjahren gibt es plötzlich überfüllte Entbindungsstationen. Kindergartenplätze reichen nicht mehr aus. Schulen müssen zusätzliche Lehrkräfte und Räumlichkeiten für die großen Drachenjahrgänge finden. Ein dauerhafter Kapazitätsaufbau lohnt sich nicht. Die darauffolgenden Jahrgänge sind deutlich kleiner. Bei den Zugängen zu den besten Universitäten und weiterführenden Schulen zeigt sich eine weitere Schattenseite des Drachenbabybooms: mehr und härtere Konkurrenz. In Taiwan und China gibt es sowohl für die weiterführende Schule als auch für die Universität zentrale Eingangsprüfungen. Die dort erreichte Punktzahl bestimmt darüber, welche Institution man besuchen darf. Hier haben die goldenen Drachenkinder dann das Nachsehen – denn die Kapazitäten an den besten Einrichtungen werden nicht erhöht. Da hat man es als Tigerkind allen Vorurteilen zum Trotz viel besser.
Anna Marti leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Taipei.