Zwei-plus-Vier-Vertrag
„Sternstunde der Diplomatie“ - 30 Jahre Zwei-plus-Vier-Vertrag
Was im 30. Jahr der deutschen Einheit den meisten selbstverständlich erscheint, war eine Generation zuvor für viele Miterlebende eine unerwartete weltpolitische Wende: Das besiegte, gespaltene und teil-souveräne Deutschland wurde unter westlich-freiheitlichen Vorzeichen wiedervereint und souverän. Und nicht nur das: Es behielt seinen gewachsenen Bindungen an den Westen und stand zugleich im Zentrum einer neuen Friedensarchitektur für Europa. Gerade letzteres war ein absolutes Novum, galt doch der deutsche Nationalstaat im 19. und 20. Jahrhundert in den Augen vieler als europäischer, ja globaler Unruheherd. Deshalb hatten die wenigsten damit gerechnet, dass „eine Vereinigung Deutschlands zu westlichen Maximalkonditionen“ (Andreas Rödder) möglich sein würde.
Einer schon: Bereits Mitte der 1960er Jahre entwickelte Hans-Dietrich Genscher ein Konzept, das auf eine konsequente Europäisierung der deutschen Frage hinauslief. Seitdem galt für ihn, was er als zentrale Botschaft bei seinem ersten öffentlichen Auftritt in seiner Hallenser Heimat formulierte: „Europa ist unsere Chance. Eine andere haben wir Deutsche nicht.“ Als Außenminister suchte er dieses Konzept mehrgleisig umsetzen, zum einen durch die Vertiefung der damals noch westeuropäischen Gemeinschaft. Zum anderen setzte er die Entspannungspolitik gegenüber dem Ostblock unbeirrt fort und konnte so großes Vertrauen nicht nur in Moskau, sondern auch bei den kleineren osteuropäischen Staaten aufbauen.
Möglicherweise wäre auch Genschers Beharrlichkeit und Findigkeit an den tiefen Gräben zwischen Ost und West gescheitert, wenn ihm nicht ein tiefgreifender Politikwechsel in der Sowjet-Union zu Hilfe gekommen wäre. Als einer der ersten erkannte der deutsche Außenminister die Chancen für Deutschland und Europa, die durch das Auftreten von Michael Gorbatschow gegeben waren. Durch diesen änderte sich Ende der 1980er Jahre die weltpolitische Konstellation grundlegend und bot sich die einmalige Möglichkeit, die deutsche Einheit im Rahmen gesamteuropäischer Freiheit zu verwirklichen.
Natürlich wollte nicht nur Hans-Dietrich Genscher die Gunst der Stunde nutzen, ihm kamen aber nun in der unübersichtlichen Szenerie von 1989/90 – auch im Vergleich zum manchmal außenpolitisch unglücklich agierenden Kanzler - seine diplomatische Erfahrung und das große Vertrauenskapital zu gut, das er Ost wie West genoss. Deshalb waren die Zwei+Vier-Verhandlungen und ihr erfolgreicher Abschluss vor allem sein Verdienst: Genscher hatte das Format und die Formel erfunden und so durch Beschränkung auf die beiden deutschen Regierungen und die vier Siegermächte des Weltkriegs die unvermeidlichen Querschüsse und Verzögerungen einer „großen“ Friedenskonferenz vermieden, welche es auch so reichlich gab. Zugleich sorgte er u. a. durch Garantiezusagen für die bestehenden Grenzen dafür, dass sich die kleineren europäischen Nationen trotzdem nicht „ausgegrenzt“ fühlten. Hilfreich war natürlich, dass die USA diesen von Genscher in Bonn maßgeblich durchgesetzten Kurs rückhaltlos unterstützen, weshalb manches Zögern in London und Paris nicht zum Tragen kam. Sowjetische Bedenken wurden – eingedenk Bismarcks Vorgehen bei der Reichsgründung 1871 – durch sehr weitgehend finanzielle und wirtschaftliche Zugeständnisse überwunden.
So konnte Hans-Dietrich Genscher schon nach viermonatigen Verhandlungen am 12. September 1990 in Moskau gemeinsam mit seinen fünf Amtskollegen einen Vertrag unterzeichnen, mit dem der Zweite Weltkrieg endgültig beendet und die europäischen Verhältnisse auf eine völlige neue Basis gestellt wurden. Flankiert wurde er durch weitere bilaterale Abkommen Deutschlands mit Polen und der Sowjet-Union, wo es jeweils die stärkste Skepsis gegenüber den vereinten Deutschen gegeben hatte, und vor allem die „Charta von Paris“, in der die friedliche und freiheitliche Einheit des europäischen Kontinents feierlich beschworen wurde. Nach der großen Unübersichtlichkeit zu Jahresbeginn war Ende 1990 auf dem Verhandlungsweg ein Zustand erreicht worden, der allen Europäern eine hoffnungsvolle und gemeinsame Zukunft verhieß, und mit ihnen den Deutschen. Liberale Persönlichkeiten und Ideen hatten an diesen „Sternstunden der Diplomatie“ ganz gewichtigen Anteil.