Indien nach den Wahlen
Indiens Regierungschef steht nach dem Verlust der absoluten Mehrheit vor neuen Herausforderungen
Seit der Wahl im Frühjahr ist Indiens Premierminister auf die Unterstützung von Koalitionspartnern angewiesen. Bereits in den ersten 100 Tagen zeigt sich, dass das Regieren in der weltgrößten Demokratie schwieriger geworden ist.
Am anderen Ende der Welt wirkt es so, als hätte sich in Indien kaum etwas geändert. In New York präsentiert sich Regierungschef Narendra Modi einmal mehr als der Mann hinter Indiens rasantem Wirtschaftswachstum. Er sei zuversichtlich, dass Indien bis zum Ende seiner aktuellen Amtszeit die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sein werde, sagt Modi vor prominenten Managern amerikanischer Technologieunternehmen. Ihnen verspricht er anhaltenden Reformeifer, mit dem er den ungebremsten Aufstieg seiner Heimat zementieren möchte.
Doch knapp 12.000 Kilometer von New York entfernt, in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi, ist die Welt für Modi komplizierter geworden. Seit der Parlamentswahl im Frühjahr, bei der Modi mit seiner Bharatiya-Janata-Partei (BJP) die absolute Mehrheit verlor, kann der 74-Jährige nicht mehr weitgehend widerstandsfrei durchregieren, wie er es in seinen ersten zehn Jahren an der Regierungsspitze gewohnt war. Er muss jetzt mit seinen Koalitionspartnern Kompromisse schließen, auf deren Stimmen er im Parlament angewiesen ist.
Dort tritt ihm auch eine wiedererstarkte Opposition entgegen. "Wir haben Modi psychologisch fertig gemacht", sagte Oppositionsführer Rahul Gandhi vor wenigen Wochen. Dessen Kongresspartei hatte zusammen mit verbündeten Parteien bei der Wahl überraschend gut abgeschnitten und den Abstand zur Regierungskoalition deutlich verringert. "Ich sitze im Parlament direkt vor Modi", sagte Gandhi. "Ich weiß, dass sein Selbstvertrauen weg ist."
Regierungsvertreter weisen Gandhis Aussage als "unbegründet und lächerlich" zurück und verweisen auf Erfolge des Premierministers in den ersten 100 Tagen seiner dritten Amtszeit: Infrastrukturprojekte im Wert von 36 Milliarden Dollar seien auf den Weg gebracht worden, teilt die Regierung mit – darunter knapp 1000 Kilometer an neuen Autobahnen. Zudem habe sie neue Initiativen zur Schaffung von Arbeitsplätzen gestartet und die Körperschaftssteuer für ausländische Unternehmen von 40 auf 35 Prozent gesenkt – eine Maßnahme, um Indiens wachsende Bedeutung für internationale Konzerne weiter zu festigen.
Doch die Opposition trifft einen wunden Punkt, wenn sie darauf verweist, dass die Regierung die neuen Kräfteverhältnisse bereits deutlich zu spüren bekommt – und Modi vor neue Herausforderungen stellt. Zu beobachten war dies etwa bei Modis Versuch, nach der Wahl externe Fachleute als Quereinsteiger in Indiens Beamtenapparat zu holen, dem bei spezifischen Themen – wie zum Beispiel dem Aufbau einer modernen Halbleiterindustrie – oftmals die Expertise fehlt.
Werbung für einen solchen Quereinstieg musste Modi jedoch kurz nach dem Start der Kampagne wieder zurückziehen. Er reagierte damit auf massive Kritik, die nicht nur aus der Opposition, sondern auch von seinen Verbündeten kam. Ausschlaggebend dafür war, dass der Plan keine Quotenregelung für benachteiligte Kasten vorsah, wie es sonst bei der Besetzung öffentlicher Stellen üblich ist. "Gemeinsam mit der Opposition haben wir uns gegen das Vorhaben gestellt", sagte Chirag Paswan, Chef einer Regionalpartei, die Teil von Modis Regierungskoalition ist. Er brüstete sich damit, dass die Regierung nach seinem Einschreiten entschieden habe, auf den neuen Ansatz bei der Postenbesetzung zu verzichten.
Für Modi, der in der Vergangenheit mit Blick auf seine absolute Mehrheit auch unpopuläre Ideen durchsetzen konnte, war der Widerstand gegen die Quereinstiegspläne nicht der einzige Rücksetzer zu Beginn der neuen Legislaturperiode. Im Zuge breiter öffentlicher Kritik musste er auch eine umstrittene Überarbeitung des Rundfunkgesetzes, das auch Youtuber staatlich regulieren sollte, zumindest vorübergehend aufgeben. Ähnlich erging es Finanzministerin Nirmala Sitharaman, die geplante Änderungen bei der Kapitalertragssteuer nach einem öffentlichen Aufschrei im Juli zurücknehmen musste.
Ein neues Gesetz über muslimische Wohltätigkeitsstiftungen, in dem Kritiker eine Einschränkung der Religionsfreiheit sahen, schickte die Regierung zudem unter anderem auf Druck von Modis Koalitionspartnern zu weiteren Beratungen an einen Parlamentsausschuss. Der Vorgang machte deutlich, wie sehr die neuen Mehrheitsverhältnisse Modi einen neuen Politikstil abverlangen: Anstatt Gesetze durchpeitschen zu können, müssen sie erst ausverhandelt werden.
Modi hilft dabei seine nach wie vor hohe Beliebtheit in der Bevölkerung. Laut einer Umfrage der Zeitschrift "India Today" befürworten 49 Prozent der Inderinnen und Inder Modi als Regierungschef – kein anderer Politiker bekommt bei der Frage, wer Indien regieren sollte, ähnlich viel Zustimmung. Doch gleichzeitig zeigt die halbjährlich durchgeführte Befragung auch, dass Modis Beliebtheit ihren Höhepunkt womöglich überschritten hat. In der vorangegangenen Umfrage war seine Beliebtheit noch um sechs Prozentpunkte höher.
Eine Reihe von Regionalwahlen wird in den kommenden Wochen und Monaten zeigen, wie groß die Zugkraft Modis tatsächlich noch ist. In Kaschmir – Teil der Region Jammu und Kaschmir – fanden in den vergangenen Wochen die ersten Regionalwahlen seit dem Entzug der Teilautonomie durch Modi vor fünf Jahren statt. In Haryana, wo sich viele Bauern von Modi abgewandt haben, könnte die BJP aus der Regierung geworfen werden. Ergebnisse der beiden Abstimmungen sollen am 8. Oktober vorliegen. Sie dürften auch die Stimmung für weitere Wahlen vorgeben, die in den kommenden Monaten in Maharashtra, Jharkhand und Delhi geplant sind.
In Delhi steht Modi auch vor einer erneuten Konfrontation mit dem charismatischen Oppositionspolitiker Arvind Kejriwal von der Regionalpartei AAP. Der langjährige Regierungschef der Hauptstadtregion wurde in diesem Jahr infolge von Korruptionsvorwürfen inhaftiert, die er selbst als politisch motiviert zurückweist. Von dem Regierungsamt trat er zwar zurück, aus dem Gefängnis kam Kejriwal aber wieder frei: Indiens oberstes Gericht hatte ihn im September auf Kaution entlassen. Kejriwal wertet auch das als Ausdruck von Modis geschwundenem Einfluss: "Modi ist zwar sehr mächtig", sagte der Politiker. "Aber er ist auch nicht Gott."