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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Bürokratie
Kampf dem Bürokratie-Burnout

Die Europäische Union muss aufhören, die Wirtschaft mit Vorschriften zu überziehen. Meseberg könnte ein Startschuss gewesen sein, dies zu erreichen.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, M), Christian Lindner (FDP, l), Bundesminister der Finanzen, und Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen, r), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, nehmen am Pressesstatement nach der Halbzeit-Klausur des Bundeskabinetts vor Schloss Meseberg teil.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, M), Christian Lindner (FDP, l), Bundesminister der Finanzen, und Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen, r), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, nehmen am Pressesstatement nach der Halbzeit-Klausur des Bundeskabinetts vor Schloss Meseberg teil.

© picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Das war schon immer so: Wer als Politiker bei einer Veranstaltung spontanen Applaus ernten will, der muss nur auf die staatliche Bürokratie schimpfen. Dabei ist es völlig egal, wer genau im Publikum sitzt, ob private Bürgerinnen und Bürger oder Vertreter der Wirtschaft. Alle ächzen unter der bürokratischen Last, alle schimpfen auf den Wust an Verwaltungs- und Informationsvorschriften, alle rufen verzweifelt nach Entbürokratisierung.

Und nichts passiert. Jedenfalls bisher. Ganz im Gegenteil, überall ist der Dickicht an Vorschriften immer schlimmer geworden – ob im Gesundheitswesen bei den Ärzten oder im Tourismus bei Hotels und Gaststätten. Oder in der Industrie, der die letzte Bundesregierung von Union und SPD im Jahr 2021 das sogenannte Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten (LkSG) bescherte. Es trat Anfang dieses Jahres in Kraft und verpflichtet ab 2024 Großunternehmen mit mehr als 1000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - derzeit liegt die Grenze noch bei 3000 - zu einer umfangreichen Berichts- und Nachweispflicht über die Zulieferer in ihren globalen Wertschöpfungsketten, mit Blick vor allem auf ökologische und soziale Standards.

Nun droht noch viel Schlimmeres: Es sollen von Seiten der EU – ein Referentenentwurf liegt vor – die „European Sustainability Reporting Standards“ (ESRS) eingeführt werden, und zwar mit noch erheblich größerer Berichts- und Kontrolldichte und zudem ab 2026 anwendbar für alle Unternehmen mit mehr als 250 (!) Beschäftigten. Allein in Deutschland träfe dies 15.000 Firmen, also einen großen Teil des gewerblich-industriellen Mittelstands. Europa ist also in diesem Fall noch mehr an der drohenden Misere schuld als Deutschland selbst. Eine durchaus nicht untypische Situation, denn schon heute fußen laut Bundesjustizministerium rund 57 Prozent aller bürokratischen Berichts- und Informationspflichten auf Europarecht.

Die Botschaft aus Meseberg von der jüngsten Kabinettsklausur lautete aber: Wir machen nun wirklich ernst mit der Entbürokratisierung. Einige naheliegende Maßnahmen wurden tatsächlich beschlossen. Diese sparen pro Jahr „Erfüllungsaufwand“ in der Größenordnung von 2,3 Milliarden Euro – ein bemerkenswerter Schritt, aber im Grunde nur „Peanuts“ im Vergleich etwa zu den Aufwendungen, die als bürokratische Last der neuen europäischen Lieferkettenregeln auf die Industrie niedergehen würde, wenn sie denn beschlossen wird. Meint es die Bundesregierung also wirklich ernst mit ihrer Ankündigung einer bürokratischen Zeitenwende, dann ist als Erstes eine Blockade des ESRS-Entwurfs aus Brüssel mit anschließender kompletter Überarbeitung dringend geboten.

Mehr als das: Sie wird wohl zu einem Lackmustest der Glaubwürdigkeit für die Regierung – gerade auch mit Blick auf die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft. Denn diese hat viel zu tun mit zu hohen Steuern und zu starken bürokratischen Belastungen, die gerade mittelständischen Unternehmen das Leben schwermachen. Entsprechende Forderungen aus der Wirtschaftspresse sowie aus Wirtschaftsverbänden sind mehr als gerechtfertigt. Ein Verzicht auf übermäßige Lieferketten-Kontrolle wäre im Übrigen auch ein Beitrag zu einem realistischeren Blick auf die Rolle der mittelständischen Wirtschaft in der Globalisierung. Denn es ist völlig utopisch zu glauben, dass kleinere Unternehmen wirklich in der Lage sind, die Arbeitsbedingungen und den ökologischen Footprint oft kleiner Zulieferer in Entwicklungs- und Schwellenländern verlässlich zu beurteilen. Wenn man in dieser Hinsicht zu viel verlangt, werden diese Firmen aus der globalen Arbeitsteilung ausscheiden und den Großunternehmen mit ihren stärkeren Informationsdiensten das Feld überlassen. Das wäre ein Anschlag auf den gewerblichen Mittelstand. Mit Förderung von Wachstum und Wohlstand hätte es jedenfalls nichts zu tun.