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Ehrung
Bildung als Lebenschance

Ruth Wagner und Dr. Wolfgang Gerhardt auf dem FDP-Sonderparteitag in Berlin (Berlin, 2000)

Ruth Wagner und Dr. Wolfgang Gerhardt auf dem FDP-Sonderparteitag in Berlin (Berlin, 2000)

© picture alliance/Ulrich Baumgarten

Aus Anlass der 50-jährigen Gründung des organisierten Liberalismus in Hessen am 19.12.1945 haben Wolfgang Gerhardt als damaliger Bundesvorsitzender und ich als Landesvorsitzende der FDP 1996 in der Paulskirche in Frankfurt am Main, die uns Liberalen so wichtig ist, Bilanz gezogen.

1945 waren die Männer, die sich dort trafen, vor der Nazizeit entweder Mitglieder der DDP oder der DVP mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen – noch in der Weimarer Republik, der Nazizeit, Krieg und Kriegsgefangenschaft und Neuanfang. Wir mussten unsere Vergangenheit annehmen, wir werden auch als Enkelgeneration für sie in Haftung genommen.

Wir sind beide in Dörfern aufgewachsen – er im Vogelsberg, ich im hessischen Ried; unsere Väter sind im Krieg gefallen. Er hat im Dorf Helpershain im Haus der Großeltern, seiner Mutter und Tante, die eine Poststube und Schreinerwerkstatt betrieben, eine glückliche Kindheit verbracht. Von seiner Mutter unterstützt, besuchte er die Realschule in Alsfeld und schließlich auch das Gymnasium, um dann studieren zu können. Ich habe mir die Realschule und das Gymnasium und schließlich auch das Studium erkämpft – als erstes Mädchen meines Dorfes.

Bildung ist für Wolfgang Gerhardt und mich, auch heute, eine Lebenschance für den Menschen, eine Chance für Solidarität mit anderen Menschen der eigenen Nation und der Welt- und damit Grundlage für eine solidarische, freiheitliche Weltpolitik.

Ruth Wagner
Ruth Wagner

Für Wolfgang Gerhardt und mich gilt, was Hartmut von Hentig, Pädagoge, Philosoph und Schulpolitiker 1998 unter Bildung verstanden hat: „Sie ist keine Anpassung, kein Drill, kein Zwang, sondern Anregung, Entwicklung und Prozess, der kein Ende findet.“ Das Ziel aller Bildung sei die sich selbst bestimmende Person, das Individuum, für das Freiheit konstituierend ist.

2015 hat Wolfgang Gerhardt in einer Broschüre der Friedrich-Naumann-Stiftung von der „Bildung der Solidarität“
gesprochen: „Die Welt der Zukunft ist eine Welt des Lernens. Lernen ist der entscheidende Nachhaltigkeitsfaktor, wirtschaftlich, kulturell, sozial und politisch. Es geht um Kompetenzen. Gefordert sind dabei vor allem Lehrer und Elternhäuser. Es geht um die Art und Weise, wie Wissen in der Schule vermittelt wird, aber auch wie Haltungen, Werte und Einstellungen im familiären Umfeld vorgelebt werden. Es geht um die Kultur des Lernens und den Willen zum Lernen.“ Es gilt, die unterschiedlichen und besonderen Talente der Kinder früh aufzuspüren und zu fördern, sie zu entwickeln. Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit sind nicht identisch mit Ergebnisgleichheit. Und er folgert: „Wenn eine demokratische Gesellschaft sich von einer egalitären unterscheiden will, dann muss sie hervorgehobene Positionen unabhängig von Rasse, Herkunft, Geschlecht und Religion möglich machen, aber nicht unabhängig von Befähigung und Leistung. Und sie muss das Ausbildungssystem differenzieren und die Verschiedenheit der Begabung und Neigung entwickeln und sie produktiv wirksam werden lassen.“

Bildung ist für Wolfgang Gerhardt und mich, auch heute, eine Lebenschance für den Menschen, eine Chance für Solidarität mit anderen Menschen der eigenen Nation und der Welt- und damit Grundlage für eine solidarische, freiheitliche Weltpolitik.