Superwahljahr 2024
Demokratische Dynamik im Superwahljahr 2024: Ein Blick auf Taiwan und Deutschland
2024 ist das weltweite Superwahljahr – mehr als zwei Milliarden Menschen sind in diesem Jahr dazu aufgerufen, ihre Stimme abzugeben und ihre politische Meinung kundzutun. Das ist ein gutes Zeichen - denn Wahlen sind ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie. Es ist gut, dass so viele Menschen weltweit die Möglichkeit haben, ihre Meinung zu äußern. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch handfeste Probleme gibt:
Nicht alle Wahlen werden frei und fair sein, nicht alle Staaten, die Wahlen abhalten, sind liberale Demokratien, und nicht alle Bürgerinnen und Bürger in liberalen Demokratien nehmen ihr Wahlrecht wahr oder fühlen sich in ihrem politischen System repräsentiert.
Das ist der springende Punkt: Demokratie ist nichts Statisches, sondern etwas Lebendiges. Sie muss mit Leben gefüllt werden. Die Demokratisierung in Taiwan ist noch keine dreißig Jahre alt. Die Menschen haben den undemokratischen Zustand noch vor Augen. Das ist sicher mit ein Grund dafür, dass die Demokratie hier so hochgeschätzt und richtiggehend gefeiert wird. In Deutschland ist die Demokratisierung im Westen Deutschlands schon rund 80 Jahre her, im Osten über 30 Jahre. Wir haben uns an den Zustand gewöhnt – wir feiern Demokratie nicht mehr so laut, sie ist Normalität. Eigentlich ein wunderbarer Zustand, der aber auch Gefahren birgt.
Demokratie in Taiwan: Lieblingsbeschäftigung „Zocken und Wählen“
Taiwan hat das Superwahljahr 2024 eingeläutet: Am 13. Januar wurden hier der Präsident und das Parlament neu gewählt. Im Legislativ Yuan, dem Parlament, verlor die liberale Demokratische Fortschrittspartei DPP knapp die Mehrheit. Bei den Präsidentschaftswahlen konnten sich jedoch die DPP Kandidaten Herr William Ching-te Lai und Frau Bi-khim Hsiao durchsetzen und wurden zum Präsidenten bzw. zur Vize-Präsidentin gewählt.
Die Erleichterung und Freude darüber war den beiden ins Gesicht geschrieben. Mehrere zehntausend Menschen jubelten ihnen zu, als sie die riesige Bühne vor der Parteizentrale betraten, sich vor ihren Anhängerinnen und Anhängern verbeugten und sich bedankten und in die unzähligen Kameras lächelten. Die Menge tobte - ein Auftritt von Taylor Swift hätte wohl nur unwesentlich mehr Jubel hervorgerufen. Denn Wahlen und Wahlkampf sind in Taiwan emotionale Events, die riesige Menschenmassen mobilisieren.
Die Taiwanerinnen und Taiwaner scherzen gerne, dass Glücksspiel und Wahlen die Lieblingsbeschäftigungen der Menschen auf der Insel seien. Wahlkundgebungen sind wahre Massenveranstaltungen, an denen hunderttausende Menschen teilnehmen. Es werden riesige Bühnen aufgebaut, es spielen oft bekannte Bands, die die jeweiligen Parteien unterstützen. Es gibt Photobooths an denen man Fotos mit den Kandidierenden machen kann: Wenn sie da sind, dann mit ihnen persönlich, ansonsten mit Hilfe von Pappaufstellern.
Die Menschen stellen sich für so ein Foto in langen Schlangen an. Es gibt Merchandise von den jeweiligen Parteien und Kandidierenden, welches die Anhänger kaufen und stolz zur Schau tragen. Der Verkaufsschlager bei dieser Wahl war sicher die Jacke im Baseball-Stil, mit dem Aufdruck des DPP Slogans “Team Taiwan”.
Über alle Kandidierenden wird haarklein berichtet - und oftmals geht es dabei mehr um ihr Privatleben als um ihre politischen Positionen. Wahlkampf in Taiwan hat etwas von einem Festival, und die Kandidierenden sind die Stars.
Wahlen und Demokratie sind hier emotionale Themen, und längst keine langweilige Routine. Um ihre demokratischen Rechte auszuüben, nehmen die Menschen hier auch einiges auf sich. Briefwahl gibt es in Taiwan nämlich nicht, und man muss an dem Ort wählen, an dem man registriert ist. Für viele Studierende heißt das zum Beispiel, dass sie am Wahltag in ihre Heimatstadt zurückreisen müssen. Das kostet Geld und Zeit.
Ein Grund für diese Wahlbegeisterung liegt sicherlich darin, dass die Demokratisierung in Taiwan noch nicht so lange her ist: Die ersten freien Präsidentschaftswahlen fanden erst 1996 statt. Die Volksrepublik China reagierte damals übrigens mit Raketentests auf diese Wahlen. Davor hatte fast vierzig Jahre lang Kriegsrecht gegolten, welches erst 1987 beendet wurde. Dass sich die Insel so erfolgreich und friedlich demokratisiert hat, ist ungewöhnlich im internationalen Vergleich. Demokratisierung in Taiwan war ein Projekt der Taiwanerinnen und Taiwaner. Es war zu einem großen Teil der Druck aus der Bevölkerung, der dazu führte, dass die ersten freien Wahlen abgehalten wurden. Viele der Aktivistinnen und Aktivisten aus dieser Zeit sind auch heute noch politisch aktiv. Die liberale DPP wurde beispielsweise 1986 gegründet - als eine Parteigründung noch ein illegaler Akt war. Viele Menschen von damals werden nicht müde als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen den jungen Menschen zu vermitteln, was es heißt, in einer Diktatur zu leben. Das ist auch für junge Menschen in Taiwan heute keine abstrakte Drohung - denn die Volksrepublik erhebt immer drängender und bestimmter Anspruch auf Taiwan. Und was passiert, wenn die Volksrepublik die Macht übernimmt, das hat man in Hongkong gesehen, als das nationale Sicherheitsgesetz verabschiedet wurde. Von Rechtsstaatlichkeit und Schutz von Freiheit und Menschenrechten ist in Hongkong heute kaum noch etwas übrig.
Auch wenn Peking die Anwendung von Gewalt nicht ausschließt, um Taiwan unter seine Kontrolle zu bringen, so ist doch klar, dass man eine “friedliche” Lösung bevorzugen würde. Eine Taktik dabei ist es, das Vertrauen der Taiwanerinnen und Taiwaner in ihre Regierung zu zerstören. Es ist daher eine bedenkliche Entwicklung, dass gerade bei jungen Menschen populistische Kandidaten bei der letzten Wahl besonders gut abgeschnitten haben. Die Regierung und die Zivilgesellschaft halten dagegen. Ein spannendes “Gegengift” was auf der Insel erprobt wird, sind neue Formen der Bürgerbeteiligung und -kommunikation. Alles mit dem Ziel den Menschen noch mehr das Gefühl zu geben: Ja, das ist meine Regierung, hier werde ich gehört und kann mich einbringen. Mit Blick auf die Wahlbeteiligung kann man sagen - es scheint zu funktionieren.
Deutschland: Demokratie ist selbstverständlich und Populismus erfährt Zulauf
In Deutschland wird anders als in Taiwan die Demokratie nicht mehr gefeiert. Sie ist selbstverständlich geworden - sowohl in Ost als auch in West. Wir erleben keine Zeit der Aufbruchsstimmung. Eine Umfrage ergibt, dass sich sieben von 10 Bürgerinnen bzw. Bürgern in Deutschland Sorgen um die Demokratie machen. Gleichzeitig machen die Neugründungen von Parteien, wie das Bündnis Sahra Wagenknechts und die Werteunion, sowie das weitere Erstarken der AfD die Situation unübersichtlicher.
Die Umfragen für die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen im September, die je nach Bundesland zwischen 25 und 35% für die AfD vorhersehen, stellen eindrücklich dar, dass rechtspopulistische Stimmen Zulauf haben. Liberale Töne haben es schwer, gehört zu werden. Auch im Hinblick auf die Europawahlen im Juni könnten Populisten sich weiterhin verbessern.
Die sich verändernde Parteienlandschaft mag man bedauern. Sie ist aber auch Ausdruck einer Demokratie. Denn diejenigen, die sich bisher vielleicht nicht gehört fühlen, bekommen eine Stimme - auch wenn uns Liberalen diese Richtung nicht gefällt, sie der Demokratie sogar Schaden anrichten kann.
Andererseits erleben wir ein Aufwachen derjenigen, die sich quer durch die Gesellschaft gegen Rechtspopulismus und für eine offene Gesellschaft engagieren und samstags mit Kinderwagen und selbst gebastelten Schildern gegen „Remigrationspläne“ der AfD auf die Straße gehen.
Wir erleben eine zunehmende Diskussion darüber, wie wir eigentlich wieder miteinander in das Gespräch kommen und auch eine gemeinsame Sorge darüber, wie sich junge Menschen, aber auch zunehmend eine breitere Bevölkerungsschicht politisch informiert: über Social Media.
Ähnlich wie in Taiwan steht in Deutschland die dringende Frage auf der Tagesordnung, wie wir den bei TikTok verbreiteten Fake News, der Hetze und Geschichtsverfälschung, die die AfD hier gezielt betreibt, begegnen können. Die Parteien und Politiker anderer Parteien werden sich zunehmend auch auf diese Plattform begeben (müssen).
Fragen der Regulierung von Plattformbetreibern werden noch stärker im Fokus stehen. Und die Frage, wie wir mit Hilfe moderner Bildung die jungen Menschen dazu ermächtigen, Fake News selber zu erkennen und sich mündig eine eigene Meinung zu bilden, ist eine der Demokratie-Zukunftsfragen unserer Zeit. Sie stellt unser bisheriges Bildungssystem, das noch sehr an dem „gelernten Stoff“ hängt und weniger eigenständiges Lernen im digitalen Raum in den Fokus nimmt, auf den Kopf. Das Superwahljahr 2024 sollte Anlass sein, die Reform unseres Bildungssystems endlich anzugehen.
Fazit
Demokratie ist lebendig und lebt von den Menschen. Im Hinblick auf das Superwahljahr dominieren Berichte und Analysen, die sich auf die negativen Aspekte konzentrieren. Es ist wichtig, dass wir Licht ins Dunkel bringen. Aber genauso wichtig ist es, das Positive nicht aus den Augen zu verlieren: Es gibt positive Beispiele dafür, dass liberale Demokratie resilient und geschätzt ist, zum Beispiel in Taiwan. Und auch in Deutschland ist nicht alles hoffnungslos. Bei aller AfD-Berichterstattung sollten wir nicht vergessen, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland weiterhin Parteien wählt, deren Werte Demokratie, Weltoffenheit und Toleranz sind. Die Menschen gehen in Deutschland auch weiterhin für ihre demokratischen Überzeugungen auf die Straße. Wir sollten uns ein Beispiel an Taiwan nehmen und unsere Demokratie und unsere Freiheiten mehr feiern. Dies wird dann auch den ein oder anderen griesgrämigen (Nicht-)Wähler wieder mitnehmen.
Dr. Maren Jasper-Winter ist Mitglied des Vorstandes der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
Anna Marti ist Projektleiterin des Global Innovation Hub in Taipeh.