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Antisemitismus
"Der Islamismus in Deutschland wird eine neue Hochphase erleben"

Ihr seid nicht allein
© picture alliance/dpa | Stefan Puchner

Der Anschlag der Hamas am 7. Oktober hat nicht nur den Nahen Osten verändert, sondern auch Deutschland. Seit diesem Tag gab es laut der Meldestelle RIAS über 2.500 antisemitische Vorfälle gegen jüdische Einrichtungen und gegen deutsche Jüdinnen und Juden selbst, weil man sie durch das antisemitische Verschwörungsdenken für das verantwortlich macht, was in Israel und Gaza passiert. Auch die polarisierenden Debatten über islamistischen Antisemitismus spielen eher Minderheiten gegeneinander aus, anstatt eine nötige Debatte darüber zu führen, wie wir in einer vielfältigen Gesellschaft unterschiedliche Formen von Antisemitismus bekämpfen können- gemeinsam mit der muslimischen Community in Deutschland. Diese gewaltvollen Diskurse sorgen dafür, dass sich Minderheiten in ihre Communities zurückziehen, weil sie erstens Angst vor Gewalt haben und zweitens hautnah erleben, wie die aktuelle Hochkonjunktur an Feindbildern, Entmenschlichung und Vernichtungsfantasien ihr Sicherheitsempfinden erschüttert. Mir begegnen immer mehr migrantische Deutsche, ob jüdisch oder muslimisch, die ernsthaft daran zweifeln, ob ihre Zukunft noch in diesem Land stattfinden kann und wieso diese Gesellschaft es bis heute nicht schafft, ihre Minderheiten zu schützen. Wir erleben gerade eine Zäsur, weil die antisemitische und rassistische Stimmung in Deutschland unerträglich geworden ist.


Besonders zwei Begegnungen in den letzten Wochen haben mich zutiefst erschüttert. In einer deutschen Großstadt war ich eingeladen, einen Vortrag über die innenpolitische Lage bezüglich der Auswirkungen des Nahostkonfliktes in Deutschland zu halten. Auch der Oberbürgermeister dieser Stadt nahm daran teil. Im Anschluss an meinen Vortrag wehrte dieser Oberbürgermeister meine Aussagen über einen immer salonfähiger werdenden Antisemitismus ab und sagte: „In meiner Stadt gibt es keine antisemitischen Demonstrationen. Von daher kann ich es auch nicht verstehen, warum die Juden in meiner Stadt sagen, dass sie sich unsicher fühlen.“ Diese Aussage machte mich fassungslos. Auch, wenn sie mich nicht wirklich überraschte. In Gesprächen mit Politikern nehme ich natürlich Solidarität und Anteilnahme wahr. Doch wir müssen auch über die Überforderung, Hilflosigkeit und das geringe Bewusstsein sprechen, das ebenfalls vorhanden ist.

Wir brauchen mehr denn ja Haltung

Gerade letzteres hat nämlich fatale Konsequenzen. Denn Politiker sitzen an den Schaltstellen unserer Demokratie, um einen Strukturwandel von oben einzuleiten, den wir jetzt dringend brauchen. Wenn demokratische Parteien dieser Stimmung nichts entgegensetzen oder sie gar mit rechtspopulistischen Sprüchen befeuern, dann habe ich Angst, dass am Ende niemand mehr die offene Gesellschaft gegen Islamisten und Rechtsextreme verteidigt. In einer vielfältigen Gesellschaft muss man von Politikern Multiperspektivität erwarten. Dass sie nicht nur ihre Parteien repräsentativ und multiperspektivisch aufstellen, sondern dass sie selber in der Lage sind, multiperspektivisch zu denken. Dass sie die Erfahrungen diskriminierter Gruppen mitdenken, wenn sie ihre Entscheidungen treffen. Was wir jetzt brauchen sind Politikerinnen und Politiker, die Führung und Verantwortung übernehmen, die Sicherheit vermitteln und alles Erdenkliche tun, um Minderheiten zu schützen. Damit polarisierende Debatten nicht auch noch unsere Gesellschaft spalten, brauchen wir mehr denn je Haltung.

Die zweite verstörende Begegnung in den letzten Wochen war mit einem Schulleiter, der mir in seinem Büro weismachen wollte: „Bei mir an der Schule kann es gar kein Problem mit Antisemitismus geben, weil wir haben jüdischen Schüler.“ Solche Aussagen erlebe ich nicht nur von Schulleitungen, sondern auch von Lehrkräften. In den letzten Wochen wurde viel über Antisemitismus an Schulen diskutiert. Doch diese Debatte ist sehr verengt auf antisemitische Einstellungen in der Schülerschaft. Dass es solche Einstellungen auch bei Lehrkräften und Schulleitungen geben kann, geht leider unter. Ich erlebe sehr häufig, dass die Reaktion auf antisemitische Aussagen muslimischer Jugendlicher oft Rassismus ist. Das sorgt für ein aufgeheiztes Klima in der Schule. Dabei könnte gerade die Schule der Ort sein, wo Jugendliche mit professionell ausgebildetem Personal über dieses Thema sprechen und sich eine differenzierte Meinung bilden könnten.

Der Nahostkonflikt gehört zur Lebenswelt deutscher Jugendlicher

Rassismus und Antisemitismus müssen in der Lehramtsausbildung ein zentraler Baustein sein, damit Lehrkräfte Kompetenzen erlernen, wie sie in konkreten Situationen handeln und Betroffene schützen können. Wir brauchen Angebote an Schulen, wo Jugendliche Raum haben für ihre Emotionen, ihre Trauer und ihren Zweifel. Diese Räume schaffen Anerkennung und Identität. Gleichzeitig ist es wichtig zu vermitteln, was noch unter Meinungsfreiheit fällt und was nicht. Wie man mit Palästinensern solidarisch sein kann, ohne antisemitische Stereotype zu bedienen. Was der Staat Israel für Jüdinnen und Juden bedeutet und welche Rolle Social Media spielt, wenn es um Lagerdenken, Schwarz-Weiß-Bilder und Kriegspropaganda geht. Der Nahostkonflikt gehört zur Lebenswelt deutscher Jugendlicher. Es gibt weder an Schulen noch in den Medien Angebote für sie, um ihre Themen abzubilden.

Gerade die Sozialen Medien greifen die Leerstelle auf. Allerdings findet man kaum differenzierte Beiträge, sondern emotionalisierende, die die Affekte der Konsumenten ansprechen. Die Vereinfachung des Konfliktes spielt eine große Rolle, die nicht selten in antisemitischen Erklärungen oder Verschwörungsmythen landen. Gerade islamistische Prediger und Influencer haben einen so massiven Zulauf, dass wir damit rechnen müssen, dass der Islamismus auch in Deutschland eine neue Hochphase erleben wird. Die islamische Theologie hat keine Antwort auf diese Entwicklung, wobei sie gerade jetzt die Deutungshoheit nicht den Islamisten überlassen darf. Auch die deutsche Politik spielt hier eine unrühmliche Rolle, wenn sie in dieser angespannten Lage Erdogan nach Berlin einlädt, anstatt progressive Stimmen in der muslimischen Community zu stärken.

Medien können mehr Formate schaffen, die die Komplexität und Multiperspektivität dieses Konfliktes sowie die Auswirkungen auf Deutschland nicht nur in Kriegszeiten thematisieren. Medien mitzugestalten und Geschichten mitzuerzählen ist ein wichtiger Weg, der für viele Menschen – gerade Betroffene – immer noch nicht zugänglich ist. Wann wollen wir diese Perspektiven öffnen und zeigen, wenn nicht jetzt?

Wir brauchen ein radikales Umdenken. Denn auf diese Zäsur, die wir gerade erleben, kann es kein „weiter so“ oder „business as usual“ geben. Wir müssen dieser gefährlichen gesellschaftlichen Entwicklung mehr Willen und Entschlossenheit entgegensetzen. Wir brauchen Mut und Zivilcourage, um die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen.

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