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Europäische Union
Kaja Kallas und die neue Grenze der EU-Diplomatie

estnische Premierministerin Kaja Kallas wird Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik

Die estnische Premierministerin Kaja Kallas wird Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik.

© picture alliance / Xinhua News Agency | Zhao Dingzhe

Nur drei Wochen nach den Europawahlen wurden die Spitzenposten in der Europäischen Union verteilt: Ursula von der Leyen wird weiterhin die Europäische Kommission leiten, der Portugiese António Costa den Europäischen Rat, und die derzeitige estnische Premierministerin Kaja Kallas wird Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Was wissen wir über die liberale Kaja Kallas, die oft als "Eiserne Lady Europas" bezeichnet wird?

Estlands Premierministerin Kaja Kallas, links, die Präsidentin der Europäischen Kommission  Ursula Von der Leyen und der ehemalige portugiesische Premierminister  Antonio Costa, rechts,

Estlands Premierministerin Kaja Kallas, links, die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula Von der Leyen und der ehemalige portugiesische Premierminister Antonio Costa, rechts.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Olivier Hoslet

Kaja Kallas wurde am 18. Juni 1977 in Tallinn geboren. Ihr Vater, Siim Kallas, bekleidete wichtige politische Ämter: von 2002 bis 2003 war er Ministerpräsident Estlands und von 2004 bis 2014 EU-Kommissar. Ihre Mutter, Kristi Kallas (geborene Kartus), ist Ärztin. Kaja hat einen älteren Bruder, Ülo Kallas, der als Finanzmanager arbeitet. Ihr Urgroßvater väterlicherseits, Eduard Alver, spielte als Kommandeur des Estnischen Verteidigungsbundes während des estnischen Freiheitskrieges eine wichtige Rolle in der Geschichte Estlands. Er leitete auch die estnische Polizei und den estnischen Dienst für innere Sicherheit. Zu Kajas Familiengeschichte gehört ein erschütterndes Kapitel während der sowjetischen Junideportation 1941. Wie Kallas bei ihrer Rede zur Freiheit der Naumann-Stiftung im April 2022 eindrücklich schilderte, war ihre Mutter gerade einmal sechs Monate alt, als sie zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter nach Sibirien deportiert wurde. Ein Jahrzehnt später durften sie nach Estland zurückkehren. "Russland hat sich nicht verändert", sagte sie letztes Jahr anlässlich des Jahrestages des Exils ihrer Mutter. "Das Böse lebt in Russland weiter." Neben ihren estnischen Wurzeln hat Kaja Kallas auch entfernte lettische und baltisch-deutsche Vorfahren - eine Entdeckung, die investigative Journalisten machten, als sie nach der Amtszeit ihres Vaters als Premierminister ihre Familiengeschichte erforschten.

"Europas Eiserne Lady"

Kaja Kallas arbeitete ursprünglich als Anwältin und trat 2010 in die Politik ein, indem sie sich der Estnischen Reformpartei (Mitglied von Renew Europe) anschloss. Bei den Parlamentswahlen 2011 gewann sie einen Sitz im Riigikogu und war später von 2014 bis 2018 Mitglied des Europäischen Parlaments. Dort konzentrierte sich Kallas auf die Strategie des digitalen Binnenmarktes, Energie, Verbraucherpolitik und die Beziehungen zur Ukraine. Sie setzte sich für Innovation und die Rechte kleiner und mittlerer Unternehmen ein und etablierte sich schnell als führende europäische Stimme in den Bereichen digitale Technologie, Regulierung und den Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine.

Im Jahr 2018 wurde Kallas die erste weibliche Vorsitzende der Reformpartei und führte die Partei zum Sieg bei den Parlamentswahlen 2019, obwohl ihre Partei zunächst nicht in der anschließenden Regierungskoalition vertreten war. Im Januar 2021 wurde sie Estlands erste weibliche Ministerpräsidentin. Sie führte das Land durch die globale Energiekrise und wurde während des russischen Einmarschs in der Ukraine zu einer der prominentesten und entschiedensten pro-ukrainischen Stimme. Unter ihrer Führung hat Estland der Ukraine umfangreiche Militärhilfe geleistet und eine entschiedene Haltung gegenüber der russischen Aggression eingenommen. Bereits 2021, als Putin begann, Truppen in der Nähe der ukrainischen Grenzen aufzustellen und die größeren europäischen Staaten noch zögerten, das Bedrohungspotential zu erkennen, handelte die Regierung von Kaja Kallas schnell. Sie begannen im Dezember 2021, Waffen nach Kiew zu schicken, wobei Kallas die proaktive Haltung so begründete: "Die Probleme unserer Nachbarn von heute sind unsere Probleme von morgen." Als Russland am 24. Februar einmarschierte, bestätigten sich die Sicherheitsbedenken von Kallas. In der Folge  erhöhte ihre Regierung die militärische Unterstützung der Ukraine um 0,8 % ihres BIP, was im Vergleich zu den Beiträgen anderer Länder deutlich hervorstach (2,73% in 2023). Kallas hielt auch international leidenschaftliche Reden, in denen sie betonte, wie wichtig es sei, die liberale, auf Regeln basierende internationale Ordnung zu verteidigen. Ihre Führung in dieser Zeit brachte ihr internationales Lob und den Spitznamen "Europas Eiserne Lady" ein.

Der ukrainische Präsident Volodymyr Zelensky und die estnische Premierministerin Kaja Kallas

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und die estnische Premierministerin Kaja Kallas.

© picture alliance / abaca | ABACA

Verfechterin eines freien Europas

Als Verfechterin eines freien Europas, setzt sie sich für die EU-Mitgliedschaft der Ukraine ein und lehnt eine Abtretung ukrainischer Gebiete an Russland entschieden ab. Kallas Amtszeit war geprägt von ihrer starken Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft der Ukraine und ihren Bemühungen, die Verteidigungs- und Abschreckungsfunktion der NATO zu stärken. Am 13. Februar 2024 setzten russische Beamte Kallas auf die Fahndungsliste des russischen Innenministeriums, angeblich aufgrund der angeordneten Entfernung sowjetischer Denkmäler des Zweiten Weltkriegs in Estland. Sie ist die erste Regierungschefin, die von den russischen Behörden in dieses Register aufgenommen wurde, was sie als "Taktik der Angstmache" Russlands abtat. Nach ihrer Wahl zur EU-Außenbeauftragten beim Europäischen Rat in Brüssel Ende Juni reagierte Russland scharf und bezeichnete Kaja Kallas als "stark russophob".

Im Jahr 2023 sah sich Kaja Kallas mit einem bedeutenden innenpolitischen Skandal konfrontiert, bei dem es um die Fortsetzung der Geschäftstätigkeit eines Unternehmens in Russland ging, das teilweise ihrem Ehemann Arvo Hallik gehörte. Dies geschah trotz ihrer ständigen öffentlichen Appelle an estnische Unternehmen, ihre Geschäftstätigkeit in Russland einzustellen.

Kaja Kallas wäre die fünfte EU-Vertreterin für auswärtige Angelegenheiten seit der Einführung dieses Amtes im Jahr 1999. Sie wäre auch die erste Vertreterin aus dem postkommunistischen Europa und die erste Vertreterin der baltischen Staaten, die die oberste Ebene der exekutiven Politikgestaltung innerhalb der Union erreicht. Als EU-Außenbeauftragte wird Kaja Kallas ihre Fähigkeit unter Beweis stellen müssen, überzeugend über verschiedene Regionen wie Afrika, den Nahen Osten und Lateinamerika zu sprechen. Eine wachsende Zahl von EU-Diplomaten in Brüssel betrachtet ihre Herkunft aus einem nichtkolonialen Land als potenziellen Vorteil. Nach ihrer Nominierung sagte sie, dass die EU-Außenpolitik seit dem Beginn des Ukraine-Krieges gestärkt worden sei. "Ich möchte, dass wir in Zukunft noch stärker werden. Einigkeit ist die Grundlage für alles. Die europäischen Institutionen und Mitgliedsstaaten müssen zusammenarbeiten, um den Zusammenhalt zu stärken", sagte sie. "Es herrscht Krieg in Europa. Dies ist die wichtigste Herausforderung der EU-Außenpolitik. Auch die wachsende Instabilität erfordert unsere Aufmerksamkeit". Kaja Kallas steht für ein hohes Maß an Professionalität und verkörpert die gemeinsame historische Erinnerung der baltischen und osteuropäischen Regionen an die Bedrohung durch Russland. Gleichzeitig steht sie für die kollektive Entschlossenheit, dieser Bedrohung mit aller Kraft zu begegnen.

Als künftige EU-Chefdiplomatin wird sich Kaja Kallas ab Ende September öffentlichen Anhörungen stellen. Die Mitglieder des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten (AFET) und des Unterausschusses für Sicherheit und Verteidigung (SEDE) des Europäischen Parlaments werden ihre politischen Vorstellungen prüfen. Letztendlich müssen Kallas und das gesamte Kollegium der Kommissare in einer einzigen Abstimmung bestätigt werden. Nach umfangreichen Verhandlungen zwischen den Fraktionen des EU-Parlaments und den Kommissaren wurde ein EU-spezifisches Arbeitsprogramm für die nächsten fünf Jahre vereinbart.