Israel
Wir müssen uns von der Dichotomie der Identitätspolitik befreien
Es ist heutzutage nicht einfach, ein israelischer Liberaler zu sein. Seit die religiös-nationalistische Regierung Netanjahus Ende 2022 an die Macht kam, stehen die Grundfeste der israelischen Demokratie unter Beschuss. Als Reaktion darauf formierte sich ein wachsendes liberales Lager, das den Obersten Gerichtshof – das Hauptangriffsziel der Regierung – als Bollwerk der israelischen Demokratie verteidigen wollte und in den großen Städten des Landes auf die Straßen ging. Seit dem Beginn des Israel-Gaza-Krieges fordert dieses Lager beständig den Rücktritt der Regierung, da diese den Angriff vom 7. Oktober nicht verhindern konnte und seitdem katastrophal agiert.
Wir glaubten, unseren Platz in der internationalen liberalen Gemeinschaft verdient zu haben. Doch je länger der Krieg andauert, desto unsicherer scheint der Platz der israelischen Liberalen in dieser Gemeinschaft zu sein. Viele von uns fühlen sich gezwungen, eine unbequeme Wahl zu treffen: Entweder als Sprecher einer Regierung aufzutreten, die wir ablehnen, oder Israel als bösartig zu verurteilen. Um es klar zu sagen: Wir wählen weder das eine noch das andere. Wir lehnen die Auffassung ab, dass wir zwischen zwei vermeintlich gegensätzlichen Identitäten wählen müssen: israelisch oder liberal.
Diese aufgezwungene Identitätsspaltung ist ein Symptom für die wachsende Kluft innerhalb der internationalen liberalen Gemeinschaft. Sie verläuft nicht zwischen israelischen und westlichen Liberalen, sondern zwischen liberalem Individualismus und illiberalem Kollektivismus. Diese ideologische Trennung ist nicht neu, sie wird aber seit dem Angriff vom 7. Oktober immer deutlicher. Ein möglicher Grund dafür ist, dass der Angriff nicht in das etablierte Identitätsnarrativ passt.
Internationale Gemeinschaft und Identitätspolitik
Identitätspolitik betrachtet vor allem historisch unterdrückte Gruppen und deren Kampf gegen die Unterdrückung. Anders als der Liberalismus, der die Gesellschaft über Individuen definiert, trennt die Identitätspolitik diese in Gruppen von Unterdrückern und Unterdrückten. Sie geht davon aus, dass Identität, Interessen und sogar Moral durch die Gruppenzugehörigkeit definiert werden. Es erinnert an klassische marxistische Theorien, laut denen die Arbeiterklasse von der Bourgeoisie unterdrückt wird.
Betrachtet man den israelisch-palästinensischen Konflikt durch die Brille der Identitätspolitik, wird die komplexe Realität auf einen Konflikt zwischen unterdrückten Palästinensern und israelischen Unterdrückern reduziert. Diese vereinfachte Version hat klare Helden und Schurken und eine simple Lösung. Sie macht es leichter zu entscheiden, auf welcher Seite man stehen sollte.
Doch diese Sichtweise hat einen großen Fehler: Sie geht davon aus, dass alle Palästinenser unschuldige Opfer und alle Israelis brutale Unterdrücker sind. Beurteilt man einen Menschen allein nach seiner Gruppenzugehörigkeit, vermeidet man es, bestimmten Unterdrückern eine individuelle Schuld zuzuweisen. Stattdessen strebt man danach, ganze Gruppen von „Unterdrückern“ kollektiv zu bestrafen. Noch schlimmer ist, dass die identitätspolitische Perspektive die unterdrückten Individuen automatisch von jeglichem Fehlverhalten entlastet.
Diese Art von kollektiver Immunität und Schuldzuweisung widerspricht einem grundlegenden liberalen Wert: der individuellen Verantwortung. Wenn wir als Liberale die Menschen als Individuen betrachten, sollten wir jeden Israeli und jeden Palästinenser individuell beurteilen – nicht danach, welcher Gruppe sie angehören, sondern danach, was sie tun oder sagen.
Am 7. Oktober kollidierten diese beiden sich teilweise widersprechenden sozialen Theorien. Als die Hamas ihren Terrorangriff auf den Süden Israels startete, verbreitete sie Bilder von ihrem Massaker auf der ganzen Welt. Während Liberale weltweit diese Taten schnell verurteilten, fiel es einigen Anhängern der Identitätspolitik schwer, dasselbe zu tun.
Viele in Israel und außerhalb Israels verurteilten die mangelnde Bereitschaft insbesondere von Menschenrechtsorganisationen, die Hamas zu verurteilen, als antisemitisch motiviert. Ein Beispiel dafür ist die Kampagne „#MeToo, unless you’re a Jew“, die UN Women und andere feministische Organisationen dafür kritisierte, die Vergewaltigungen israelischer Frauen am 7. Oktober zu ignorieren.
Doch es gibt eine weitere Erklärung, warum so viele zögern, die Hamas zu verurteilen. Laut den Grundsätzen der Identitätspolitik sind die Palästinenser eine unterdrückte Gruppe. Aktionen gegen ihre Unterdrücker sind daher stets gerechtfertigt. Die Handlungen der Hamas als palästinensischer Organisation sind Teil dieser universellen Rechtfertigung – auch wenn das bedeutet, Enthauptungen, Vergewaltigungen und Entführungen von Männern, Frauen und Kindern als legitimen Widerstand zu rechtfertigen.
Während der Liberalismus solche Gräueltaten als inhärentes Unrecht definiert, fordert die Identitätspolitik, die Identität des Täters und des Opfers zu berücksichtigen. Diese flexible Definition von Moral könnte eine Erklärung für die vielen als antisemitisch betrachteten Aussagen sein, die eine von der Identitätspolitik befeuerte Doppelmoral offenbaren.
Diese Unterscheidung der Motive ist wichtig, da wir nur durch eine präzise Definition der Logik von "Unterdrückten und Unterdrückern" ihre gefährliche Natur verstehen und effektiv bekämpfen können. Es ist verlockend, den Doppelstandard als rein antisemitisch zu betrachten und eine moralisch vorteilhafte Position einzunehmen, wenn es darum geht, wer das größere Opfer ist. Doch diese Strategie stellt die gefährlichste Prämisse der Identitätspolitik nicht infrage – dass die Unterdrückten nicht strafrechtlich verantwortlich sind. Dieser systematische Mangel an individueller Rechenschaftspflicht untergräbt das Konzept der Gleichheit vor dem Gesetz, indem er ein ordnungsgemäßes Verfahren durch unverhohlene Voreingenommenheit ersetzt.
Der gruppenbasierte Doppelstandard ist nicht auf den israelisch-palästinensischen Konflikt oder Juden und Muslime beschränkt. Aber der israelisch-palästinensische Fall ist besonders, weil er eine klare Trennlinie markiert zwischen denen, die an die Gleichheit vor dem Gesetz und individuelle Verantwortlichkeit glauben, und denen, die jede Gräueltat der Unterdrückten rechtfertigen. Das Ausmaß der dokumentierten Gewalt vom 7. Oktober macht es unmöglich, diese Rechtfertigung zu tolerieren. Sie bietet eine einzigartige Gelegenheit, die inhärent illiberale Natur der Identitätspolitik zu entlarven.
Die Herausforderung für israelische Liberale
Für israelische Liberale wurde die Unterscheidung zwischen Liberalismus und Identitätspolitik in den letzten Monaten klarer. Wir haben gesehen, wie eine wachsende Zahl von Jüdinnen und Juden weltweit angegriffen wurde. Wir haben gesehen, wie jüdische Studentinnen und Studenten von Demonstranten daran gehindert wurden, Universitäten zu betreten, selbst wenn sie keine Verbindung zu Israel haben. Offensichtlich betrachten diese „unterdrückten“ Angreifer Israelis und Juden nicht als Individuen, sondern als Teil einer inhärent schuldigen Gruppe, die verfolgt werden muss. In gewisser Weise wurden seit Beginn des Krieges viele Israelis im Namen des Kampfes gegen Unterdrückung selbst unterdrückt.
Für Freiheit zu kämpfen bedeutet, sich gegen Unterdrückung zu stellen. Wir müssen jedoch vorsichtig sein, wenn wir festlegen, was genau das bedeutet. Wenn wir zulassen, dass liberale Rhetorik zur Rechtfertigung von willkürlicher Gewalt und kollektiver Bestrafung gegen Individuen verwendet wird, riskieren wir, ihr jegliche Bedeutung zu nehmen. Wenn wir für Gleichheit vor dem Gesetz oder universelle Menschenrechte eintreten, können wir „gerechtfertigte Diskriminierung“ in keiner Weise dulden. Es ist unsere Pflicht als Liberale, unsere ideologischen roten Linien klar zu definieren und unmissverständlich für das Individuum einzutreten. Wenn wir dieser schwer fassbaren neuen Form der sozialen Unterdrückung widerstehen wollen, müssen wir uns von der illiberalen Dichotomie der Identitätspolitik befreien.