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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Argentinien
Vom Anarcho-Kapitalismus zu Stabilität und Wachstum?

Der Weg von Javier Milei nach einem halben Jahr Präsidentschaft in Argentinien ist weiter offen. Wirtschafts- und finanzpolitisch gibt es Hoffnung, aber noch nicht mehr.
Milei

Argentiniens Präsident Javier Milei ist seit einem halben Jahr im Amt.

© picture alliance / Juan Carlos Rojas | Juan Carlos Rojas

Mit großem Publikumsinteresse veranstaltete die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit – zusammen mit der Deutschen Gruppe von LIBERAL INTERNATIONAL – am 2. Juli 2024 eine Podiumsdiskussion im VKU Forum Berlin. Thema: „Argentinien unter Milei“. S. E. Fernando Brun, seit 2023 (noch vor Milei) argentinischer Botschafter in Deutschland, hielt dabei ein Grußwort. Aus Anlass dieser Veranstaltung blickt der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Professor Paqué auf die neuesten Entwicklungen in Argentinien, wo die Stiftung seit der Demokratisierung des Landes 1983 mit einem Büro in der Hauptstadt Buenos Aires vertreten ist.

Der argentinische Botschafter S. E. Fernando Brun bei der Veranstaltung „Argentinien unter Milei“.)

Der argentinische Botschafter S. E. Fernando Brun bei der Veranstaltung „Argentinien unter Milei“.

© FrankNuernberger.de

Politiker muss man an ihren Taten messen. Dies unterscheidet sie von Intellektuellen in Universitäten und Verlagshäusern, deren Meinungen, Theorien und Vorhersagen letztlich über ihren Rang entscheiden.

Für den Präsidenten Argentiniens gilt die Priorität der Taten in besonderem Maße. Was seine Ideen betrifft, kann man eigentlich nur verständnislos mit dem Kopf schütteln. Es ist ein merkwürdiges Konglomerat aus wirtschaftlich libertären Überzeugungen sowie gesellschaftlich konservativen bis reaktionären Positionen. Er befürwortet einen Staat, der sich aus der Wirtschaft fast komplett heraushält – bis hin zur Auflösung der Zentralbank und Verzicht auf jedwede Kontrolle von privater Marktmacht. Sein Ideal ist nicht der schlanke Staat des Liberalismus, der Kernaufgaben wie etwa Sicherheit und Bildung sowie Geldwertstabilität und Wirtschaftswachstum ermöglicht, sondern wirklich der Minimalstaat – und dies bei privatem Waffenbesitz, Abtreibungsverbot und ohne Rücksicht auf den Klimaschutz. Kein Zweifel, Milei fühlt sich als Libertärer dem Rechtspopulismus verbunden, wie seine Nähe zur spanischen Partei Vox und zu Donald Trump deutlich macht.

Mit diesem kruden Weltbild wurde er mit klarer Mehrheit zum Präsidenten gewählt. Nun muss er praktisch liefern. Nur was genau? Die traurige Realität Argentiniens macht klar, was ein Präsident leisten muss. Es ist vor allem eine radikale Reform der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Er muss das Land aus der galoppierenden Inflation in ein nachhaltiges Wachstum führen. Argentinien muss wieder ein voll integrierter Teil der globalen Arbeitsteilung werden – mit offenen Märkten, stabiler Währung, ohne Protektionismus und ohne Kapitalverkehrskontrollen. Dafür braucht es eine tiefgreifende Erneuerung des Staates, der Marktordnung und der Zentralbank, aber eben nicht all deren Abschaffung oder Abwicklung.

Vieles deutet darauf hin, dass der anarcho-kapitalistische Träumer diese Herausforderungen und Zwänge inzwischen verstanden hat. In den ersten Monaten seiner Amtszeit hat er das Land einem ausgeglichenen Haushalt nähergebracht – allerdings vor allem dadurch, dass er die galoppierende Preisinflation nicht mehr mit Lohnerhöhungen für Staatsbedienstete auffing, sondern einer gewaltigen „kalten Progression“ mit Senkungen der Realeinkommen freien Lauf ließ. Die Argentinier nennen dies den „Mixer“. Hinzu kamen Massenentlassungen im öffentlichen Dienst, insbesondere bei befristeten Arbeitsverhältnissen. All dies sind „low-hanging fruits“, die schnell abgeerntet sind, aber nur nachhaltig wirken, wenn auf Dauer das Staatsdefizit verschwindet, so dass jedwede Staatsfinanzierung durch Gelddrucken einer künftig unabhängigen Zentralbank der finanzpolitische Boden entzogen wird. Erst dann kann auch die Währung, der Peso, stabilisiert werden.

All das wird allerdings nur gelingen, wenn die argentinische Wirtschaft schnellstmöglich ihre derzeitige Talfahrt beendet und wieder wächst. Dies setzt eine umfassende Deregulierung der Märkte, eine Privatisierung öffentlicher Unternehmen in strategisch wichtigen Bereichen wie etwa der Energiewirtschaft sowie eine Öffnung für Kapital aus dem Ausland voraus. Dafür hat Milei tatsächlich erste wichtige Weichen gestellt – mit einem Gesetzespaket, das er in abgespeckter Form durch das Abgeordnetenhaus und den Senat des Landes gebracht hat. Dies ist bemerkenswert, verfügt er doch mit seiner Regierungspartei La Libertad Avanza („Die Freiheit schreitet voran“) über keine eigene Mehrheit, doch gelang es ihm, auch bürgerliche Abgeordnete und gemäßigte Peronisten der Opposition auf die Seite seines Reformkurses zu ziehen – ein völlig normales demokratisches Verfahren, das an die erfolgreiche Währungs- und Preisstabilisierung durch den Liberalen Gustav Stresemann 1923/24 in der Weimarer Republik erinnert. Das Gesetzespaket, das der Regierung umfassende, aber befristete Sondervollmachten gewährt, beinhaltet unter anderem langfristige Steuervergünstigungen für Direktinvestitionen aus dem Ausland, was Argentinien endlich wieder zu einem attraktiven Standort machen könnte. Langfristig, so die Hoffnung, lassen sich damit auch Teile der laut Schätzungen rd. 300 Milliarden Dollar an privaten Vermögen ins Land zurückholen, die während der Zeit des Peronismus von Argentiniern im Ausland „geparkt“ worden sind.

Aber von einem solchen politischen Glückszustand ist Javier Milei heute noch weit entfernt. Die zentrale Frage wird sein, ob es ihm gelingt, sein Programm der marktwirtschaftlichen Stabilisierung trotz allfälliger Proteste durchzuhalten und frühzeitig Erfolge vorzuweisen – mit Preis- und Währungsstabilität sowie kräftigem Wirtschaftswachstum. Wichtig ist dabei auch, dass die Hauptgläubiger des Landes von dem neuen Kurs überzeugt werden können. Wie es derzeit aussieht, stehen die Chancen dazu nicht schlecht; der Internationale Währungsfonds und China sind wohl zur Stundung von Krediten bereit.

Man sieht: Milei kommt durchaus politisch voran. Auch seine Popularität hat noch keineswegs gelitten – trotz der drastischen Senkung der Realeinkommen durch den „Mixer“ und der Entlassungen im öffentlichen Dienst. Offenbar sind die Argentinier weiterhin bereit, eine Durststrecke durchzustehen, wenn sie nur auf absehbare Zeit die Geisel der galoppierenden Geldentwertung loswerden und die Wirtschaft zurückfindet zu internationaler Wettbewerbsfähigkeit, die dann ja auch mehr nachhaltige Beschäftigung und höhere Löhne verspricht als die Tätigkeit in einem inflationär aufgeblähten Binnensektor. Das ist eine historische Chance für radikale Reformen.

Mit nüchternem Blick lässt sich allerdings feststellen, dass es für Milei um ein durchaus konventionelles, wenn auch gewaltiges Spar- und Wachstumsprogramm geht, das wenig zu tun hat mit seinen anarcho-kapitalistischen Fantasien, mit denen er gestartet ist. Dazu zählt auch die von ihm ursprünglich avisierte komplette „Dollarisierung“ der argentinischen Wirtschaft, die gar nicht nötig ist, wenn die Stabilisierung des argentinischen Pesos gelingt. Die wird schon schwierig genug und eine weitergehende scharfe Beschränkung der Liquidität allein auf den Dollar könnte dabei eher gefährlich sein, denn sie würde die Rezession verschärfen. Es genügt völlig, dass ein stabiler Peso und der Dollar parallel in Argentinien verwendet werden können – und genau in diese Richtung denken wohl auch derzeit die Berater von Milei in der Regierung, einschließlich des Finanzministers. Das ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.

Bei all diesen erkennbaren Fortschritten bleibt es allerdings höchst bedenklich, dass Milei mit einer gewissen Freude an der medienwirksamen Provokation im Ausland munter Porzellan des Goodwills zerschlägt. Unvergessen ist sein Spanien-Auftritt im Stile eines Rockstars in einem Stadion – gefüllt mit Anhängern der rechtspopulistischen Partei Vox, bei dem er unter dem Jubel der Massen die Frau des Ministerpräsidenten Sanchez als korrupt beschimpfte. Ähnlich seine abfälligen Bemerkungen über den brasilianischen Präsidenten Lula, auf dessen Zusammenarbeit er angewiesen ist – gerade auch für den wünschenswerten Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens, bei dem es in der EU noch viele Widerstände zu überwinden gilt, wofür er Lula als Verbündeten dringend braucht. Weitere Beispiele von diplomatischen Missgriffen Mileis sind fast täglich in den Medien zu lesen. Sie verdunkeln unnötig das Bild eines Präsidenten, der sich in seiner außenpolitischen Orientierung fest im Westen verankert hat und sowohl die Ukraine in ihrer Verteidigung gegen die Aggression Russlands als auch Israel in seinem Kampf gegen den Terrorismus von Hamas und Hisbollah unterstützt.

All dies verdeutlicht: Javier Milei ist und bleibt rätselhaft. Aus liberaler Sicht kann man nur hoffen, dass er sich strikt auf die Aufgaben der Stabilisierung seines Landes konzentriert, die nach Jahrzehnten des wirtschaftlichen Niedergangs absolute Priorität haben. Jenen Teil seiner Agenda, die dem Anarcho-Kapitalismus und Rechtspopulismus frönt, sollte er schnell ad acta legen. Es ist nicht die Zeit in Argentinien für eine Abschaffung des Staates; und erst recht nicht für einen konservativen Kulturkampf oder gar eine rechtspopulistische Zerreißprobe.