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Türkei
Die Türkei nach der Wahl

Türkei-Bulletin 12/2018

Militärputsch, Ausnahmezustand, Terror und Verletzung von Menschenrechten - die Ereignisse in der Türkei haben sich seit den Protesten im Gezi-Park 2013 überschlagen. Unsere Experten vor Ort analysieren die Lage nach der Präsidentschaftswahl. Die AKP gewinnt, braucht aber den Bündnispartern MHP um eine absolute Mehrheit im Parlament zubekommen. Eine Präsidialdemokratie á la turca? Herrschen ohne Limit? Wie geht es weiter mit der CHP? Und wie sieht die Zukunft zwischen der Türkei und ihrem wichtigen Handelspartner der USA aus? Unser Türkei-Bulletin bietet Antworten: 

Bei den von vielen Beobachtern als „historisch“ angesehenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen haben Amtsinhaber Erdoğan und seine regierende AKP einen Doppelsieg errungen. Während Erdoğan mit einer absoluten Mehrheit gleich in der ersten Runde als Präsident wiedergewählt wurde, errang das von Erdoğans AKP angeführte Parteienbündnis („Volksallianz“) die absolute Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung. Damit bleibt Erdoğan, der mit seiner AKP seit 16 Jahren die Geschicke des Landes bestimmt, Staatspräsident – und hat künftig mehr Macht als je ein türkischer Politiker zuvor. Das Wahlergebnis für ihn ist besser, als es die meisten Umfragen vorhergesagt hatten. Doch mit diesem Resultat ist er auch auf seinen Bündnispartner, die rechtsnationalistische MHP, angewiesen.

Die Wahlen haben unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes stattgefunden. Besonders die regierungsnahen Medien haben den Wahlkampf Erdoğans ausführlich dokumentiert. Sein größter Konkurrent, Muharrem Ince von der säkular-kemalistischen CHP, und andere Oppositionskandidaten bekamen dagegen deutlich weniger medialen Raum. Der Kandidat der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtaş, musste seinen Wahlkampf aus der Untersuchungshaft heraus führen. Erdoğan sprach dennoch von einem „Fest der Demokratie“.

Mit diesen Wahlen ist der Übergang von der parlamentarischen zur präsidialen Demokratie abgeschlossen, einen Ministerpräsidenten gibt es künftig nicht mehr. Erdoğan verteidigte in einem kurzen Statement das Präsidialsystem: Das Land werde damit eine „demokratische Revolution“ erleben. Ministerpräsident Binali Yıldırım, der am Wahltag seinen letzten Arbeitstag hatte, sagte nach der Stimmabgabe, er wolle jetzt seinen Stuhl versteigern lassen. Die Opposition, die sich diesmal realistische Chancen für einen Wechsel ausgerechnet hatte, muss sich wieder einmal mit dem Gefühl begnügen, nur „dabei gewesen“ zu sein. Im Zentrum der Kritik stand – wie bei den Wahlen zuvor – die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Die CHP griff die Nachrichtenagentur an, der sie wegen der zunächst publizierten, sehr hohen Werte für Erdoğan auf der Basis von erst wenigen ausgezählten Stimmen „Manipulation“ vorwarf. Anadolu war diesmal die einzige offizielle Quelle für Teilergebnisse. Wie beim Referendum im April 2017 wurden auch diesmal zuerst die Ergebnisse von Urnen veröffentlicht, in denen Erdoğan eine starke Unterstützung fand. So lag Erdoğan bei der Öffnung der ersten Urnen bei mehr als 70 Prozent Zustimmung, bevor seine Werte dann bis auf 52,6 Prozent zurückgingen. Experten bemängeln, Wahlbeobachter der Opposition seien dadurch bei der Auszählung entmutigt worden und womöglich frühzeitig nach Hause gegangen. Ince forderte noch am Wahlabend die Wahlbeobachter auf, bis zum Vorliegen der unterschriebenen Ergebnisprotokolle an den Urnen zu bleiben: „Verlasst die Urnen nicht!“ Der Großteil der Medien feierte den Sieg Erdoğans. Die regierungsnahe Zeitung Türkiye titelte unmissverständlich: „Erdoğan ezdi geçti!“: Erdoğan habe seine Gegner zerquetscht und überfahren. Das türkische Wahlvolk habe Erdoğan ein klares Signal gegeben: „Weiter so!“ („Devam“) Die feindlichen „ausländischen Mächte“, von denen mit verschwörerischem Ton die Rede ist, werden nicht weiter benannt. Auch Takvim, eine weitere regierungsnahe Zeitung, schreibt von „ausländischen Mächten“, denen an der Wahlurne eine Lektion erteilt worden sei und fasst den Abend für AKP-Fans in einem Wort zusammen: „Süperdoğan“. Die Hofberichterstatter von Sabah lassen in der OnlineAusgabe keinen Raum für Zweifel, wer ihr Favorit war: „Wir hatten versprochen, dass wir Dich zum Präsidenten machen werden.“ Die Zeitung zeigt Erdoğan im Großformat und zitiert ihn mit der Erklärung, die Türkei habe der Welt „eine Lektion in Sachen Demokratie“ erteilt. Viele Zeitungen unterstrichen, Erdoğan sei „der erste Präsident“ des neuen Systems, eine Formulierung, die unterstreichen soll, dass die Türkei mit dem Präsidialsystem in eine neue Ära aufbricht. Entsprechend schreibt Güneş: „Volle Kraft voraus für 2023!“, in Anspielung auf das 100-jӓhrige Jubiläum der Republik in wenigen Jahren. Erdoğan beschwört seit Jahren seine „Vision 2023“. Zum 100. Jahrestag soll die Türkei zu den zehn stärksten Volkswirtschaften der Welt gehören.

Laut Sabah wird Präsident Erdoğan den seit fast zwei Jahren geltenden Ausnahmezustand am 19. Juli auslaufen lassen. Darauf hätten sich Erdoğan und sein Bündnispartner und Mehrheitsbeschaffer Bahçeli von der rechtsnationalistischen MHP geeinigt. Erdoğan hatte vor den Wahlen eine entsprechende Maßnahme für den Fall seiner Wiederwahl angekündigt. Der OHAL – wie der Ausnahmezustand im Türkischen abgekürzt wird – war nur wenige Tage nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 eingeführt und immer wieder um jeweils drei Monate verlängert worden.

Nur wenige Tage nach den Wahlen wurde der ehemalige CHP-Abgeordnete und Journalist Eren Erdem festgenommen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm „Unterstützung einer Terrororganisation“ vor. Der 31-Jӓhrige war bei der Parlamentswahl am 24. Juni nicht erneut als Abgeordnetenkandidat angetreten. Gegen den ehemaligen Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung Karşı laufen bereits seit längerem Ermittlungen. Ihm wird vorgeworfen, im Dezember 2013 heimlich Mitschnitte von Telefongesprächen aus dem Umfeld des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Erdoğan veröffentlicht zu haben. Ein anderes Gericht ordnete die Freilassung des in erster Instanz zu lebenslanger Haft verurteilten liberalen Journalisten Mehmet Altan an. Das türkische Verfassungsgericht hatte das zwar bereits vor Monaten entschieden, doch ein nachgeordnetes Gericht hatte dieses Urteil schlicht ignoriert.

In der 27. Legislaturperiode wird der Anteil der weiblichen Abgeordneten steigen. Laut den vorläufigen und inoffiziellen Ergebnissen werden im von 550 auf 600 Mandate vergrößerten Parlament 104 Frauen sitzen. Zuletzt betrug diese Zahl 74. In absoluten Zahlen stellt die regierende AKP 53 weibliche Abgeordnete; prozentual gesehen ist die HDP mit 25 von insgesamt 67 Abgeordneten die Partei mit der höchsten Frauenrepräsentanz.

In der neuen Legislaturperiode gibt es – wie schon zuvor – auch einige „bunte Gesichter“. Für die Regierungspartei AKP werden der ehemalige Fußballnationalspieler Alpay Özalan (u.a. 1.FC Köln) und der ehemalige Motorradfahrer Kenan Sofuoğlu (mehrmaliger Weltmeister der WSSRennsportklasse) einen Platz im Parlament einnehmen. Der Sohn des ehemaligen Vizepremiers, Parlamentspräsidenten und Mitgründers der AKP, Bülent Arınç, gehört ebenso zu den neuen Gesichtern wie der Sohn von Mehmet Ağar, der in den 90er Jahren als Justiz- und Innenminister tätig war und seinerzeit durch dunkle Machenschaften mit Mafiosi von sich reden machte. Für die größte Oppositionspartei CHP wird nun auch der ehemalige Vorsitzende der „Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei“ (türk. Türkiye Devrimci Işçi Sendikaları, kurz: DISK), Kani Beko, als Abgeordneter tätig sein. Die links-orientierte DISK gehört mit knapp 350.000 Mitgliedern zu den größten Gewerkschaften der Türkei und gilt als extrem staatskritisch. Ein anderes Gründungsmitglied der AKP, der ehemalige Vizepremier Abdüllatif Şener, zieht nun für die CHP ins Parlament ein. In den Reihen der pro-kurdischen HDP finden sich der Investigativjournalist Ahmet Şık und der Theatermacher Barış Atay, dessen kontroverses Stück „Der Diktator“ vielerorts verboten worden war.

Zwei Tage nach Erdoğans Wiederwahl haben die EU-Staaten beschlossen, mit der Türkei vorerst keine Verhandlungen über eine Ausweitung der Zollunion aufzunehmen. Das Land habe sich zuletzt weiter von der Europäischen Union wegbewegt, heißt es in einer beim Luxemburger Außenministertreffen verabschiedeten Erklärung. Vor allem die anhaltenden Rückschritte bei der Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Meinungsfreiheit seien zutiefst besorgniserregend. Das Vorgehen gegen Journalisten, Akademiker, Menschenrechtler, Oppositionspolitiker und Nutzer sozialer Medien könne nicht geduldet werden. Würde der freie Warenverkehr, wie von Ankara gewünscht, auf den Agrarund Dienstleistungssektor ausgedehnt, hätte das für die Türkei massive wirtschaftliche Vorteile. Der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zur EU war und ist unverändert ein türkisches Kernanliegen. Forderungen Österreichs nach einer offiziellen Beendigung der EU-Beitrittsverhandlungen fanden jedoch keine Mehrheit. In der Erklärung wird erneut deutlich gemacht, dass Fortschritte bei den Beitrittsverhandlungen nur nach grundlegenden Änderungen in der Türkei erzielt werden können. Die Türkei bleibt hiermit zwar offiziell Beitrittsland, die Verhandlungen sind aber de facto zum Stillstand gekommen.

 

Mehr zu den Hintergründen der Türkei Wahlen finden sie in unserem Türkei Bulletin.