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Siedlungspolitik
IGH-Gutachten setzt Israel weiter unter Druck

–Geschworene betreten den Gerichtssaal während einer Entscheidung über die rechtlichen Folgen der israelischen Besetzung des Westjordanlandes und Ostjerusalems.

–Richter und Richterinnen betreten den Gerichtssaal während einer Entscheidung über die rechtlichen Folgen der israelischen Besetzung des Westjordanlandes und Ostjerusalems.

© picture alliance / ANP | Lina Selg

Vergangenen Freitag veröffentlichte der Internationale Gerichtshof sein Rechtsgutachten zur vielleicht wichtigsten juristischen Frage im Nahostkonflikt: Wie ist Israels seit dem Jahr 1967 anhaltende Besatzung der palästinensischen Gebiete (definiert als Westjordanland, Ost-Jerusalem und Gazastreifen) völkerrechtlich zu bewerten?

Das Gutachtenverfahren hatte die Generalversammlung der Vereinten Nationen bereits Ende Dezember 2022 angestoßen, also mehr als neun Monate vor dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023.

Der IGH kommt in seinem Gutachten zu einem klaren Ergebnis. Wir haben unsere Experten, Dr. Michaela Lissowsky, Leiterin des Human Rights Hub in Genf und Kristof Kleemann, Leiter des Büros in Jerusalem, zu den Konsequenzen und Reaktion auf das Rechtsgutachten befragt. Sie ordnen die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs ein.

Was hat der Internationale Gerichtshof (IGH) entschieden?
Dr. Michaela Lissowsky: Am Freitag, den 19. Juli, hat der IGH eine sogenannte Advisory Opinion, zu Deutsch ein Rechtsgutachten, über die rechtliche Bewertung der Situation in den palästinensischen Gebieten veröffentlicht. Ausschließlich diese Situation war Gegenstand der völkerrechtlichen Bewertung - nicht etwa der Überfall der Hamas am 7. Oktober auf israelische Zivilisten oder der aktuelle bewaffnete Konflikt in Gaza. Der IGH hat die Besatzung und den Siedlungsbau durch Israel im Westjordanland für „illegal“ erklärt. Daraus folgert der IGH, dass Israel das Land zurückgeben müsse und den Palästinensern Reparationen zu leisten habe. Das Rechtsgutachten hat zwar nicht den Charakter eines Urteils, ist aber eine rechtliche Einordnung des höchsten internationalen Gerichts der Welt. Vor allem die daraus entstehende politische Signalwirkung ist nicht zu verkennen.

Welche Konsequenzen entstehen aufgrund dieser Advisory Opinion?
Dr. Michaela Lissowsky: Es handelt sich um ein Gutachten, das zwar rechtlich nicht bindend, aber richtungsweisend ist. Relevant ist diese Advisory Opinion besonders auch für die deutsche Außenpolitik, weil der IGH die sogenannten erga omnes Prinzipien anwendet. Die völkerrechtliche Bewertung sei im Interesse der internationalen Gemeinschaft und daher von allen UN-Staaten zu respektieren.

Wie sollte Deutschland reagieren?
Dr. Michaela Lissowsky: Demokraten müssen eine rechtsstaatliche Außenpolitik betreiben und auch von ihren befreundeten demokratischen Partnern einfordern. Davon unberührt bleibt die uneingeschränkte politische Solidarität gegenüber den Israelis und für den Staat Israel.
Es wird Zeit, dass sich die deutsche Außenpolitik endlich emanzipiert. Das internationale Recht gilt für alle Staaten und Völker gleichermaßen. Das Selbstbestimmungsrecht gilt für Israelis wie für Palästinenser. Nur so kann dem Vorwurf der doppelten Standards begegnet werden.

Wie sind die Reaktionen in Israel ausgefallen?
Kristof Kleemann: Die Reaktionen in Israel fielen erwartungsgemäß negativ aus - nicht nur von der Regierungskoalition, sondern auch aus der Opposition. Oppositionsführer Lapid teilte mit, die Stellungnahme des Gerichts sei „realitätsfern, einseitig und von Antisemitismus und mangelndem Verständnis für die Realität vor Ort geprägt.“ Doch die Reaktionen aus Israel können nicht über einen Trend hinwegtäuschen, der die Annahme Israels, dass die Welt die Besatzung weiterhin hinnehmen wird, immer mehr in Frage stellt. Angefangen von Sanktionen gegen gewaltbereite Siedler, die Anerkennung des Staates Palästina durch mehrere europäische Staaten bis hin zu der Advisory Opinion des IGH. Israel gerät international immer stärker unter Druck.

In der vergangenen Woche hat die Knesset eine Entschließung verabschiedet, die eine Zweistaatenlösung ablehnt. Inwiefern spielte das eine Rolle?
Kristof Kleemann: Die Entscheidung der Knesset, sich gegen eine Zweistaatenlösung auszusprechen, hat die Position Israels sicher nicht gestärkt. Israels Verteidigung beruht auf der Annahme, dass die Besatzung temporär ist, solange es keine politische Lösung für den Konflikt gibt. Auch wenn die Entschließung der Knesset keine rechtliche Bindungskraft hat und bei der Entscheidung des Gerichts keine wesentliche Rolle gespielt hat, ist sie eine politische Absichtserklärung, die gegen internationales Recht verstößt und die eigene Argumentation untergräbt.

Und wie sind die Reaktionen in den palästinensischen Gebieten ausgefallen?
Kristof Kleemann: Obwohl die palästinensische Führung die Entscheidung des Gerichts begrüßte, blieben größere Feierlichkeiten aus. Die Palästinenser und ihre Führung geben sich keinen größeren Illusionen hin, dass die Entscheidung zu greifbaren Veränderungen führt. Für die Palästinenser besteht der Test in der tatsächlichen Umsetzung der Entscheidung des IGH.