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Ukraine
Die Ukraine vor dem Superwahljahr 2019 – Die Regionen im Fokus

14. Jahreskonferenz der Kiewer Gespräche in Berlin
Kiewer Gespräche

Die Kiewer Gespräche - ein anregender Ort des Austausches zwischen Meinungsbildnern aus Politik, Wirtschaft, Medien beider Länder

© KAS

Mit Blick auf die anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen diskutierten ukrainische und deutsche Experten, Politiker und Aktivisten aktuelle Entwicklungen in der Ukraine sowie Hindernisse und Chancen für reformorientierte Kräfte. 

Am 16. und 17. Oktober 2018  fand in Berlin, unterstützt von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, die mittlerweile 14. Jahreskonferenz der Kiewer Gespräche statt. Als ukrainisch-deutsches Diskussionsforum nach der Orangen Revolution entstanden, war die Konferenz auch in diesem Jahr wieder ein anregender Ort des Austausches zwischen Meinungsbildnern aus Politik, Wirtschaft, Medien und Zivilgesellschaft beider Länder. Das Thema war unweigerlich vom Vorausblick auf ein Wahljahr bestimmt, das für den künftigen Weg der Ukraine entscheidend sein könnte. Ende März 2019 findet die Präsidentschaftswahl statt, aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem zweiten Wahlgang im April, für Oktober sind Parlamentswahlen geplant und für 2020 die nächsten Kommunalwahlen. Zugleich gibt es kontinuierlich Kommunalwahlen in den Vereinigten Territorialgemeinden, die sich im Zuge der Dezentralisierungsreform nach und nach bilden.

Unumkehrbarkeit des proeuropäischen Weges noch nicht erreicht

Die Ukraine ist insofern ein freies und demokratisches Land, als der Ausgang der Wahlen ungewiss ist und eine Vielzahl an Kandidaten und Parteien miteinander konkurrieren. Sie ist zugleich noch mitten im Transformationsprozess begriffen, insofern als formale demokratische Spielregeln im Umfeld der Wahlen durch informelle Institutionen und unfaire Praktiken ergänzt und teilweise überlagert werden. So wirken sich die Nutzung administrativer Ressourcen im Wahlkampf durch Amtsinhaber, der ungleiche Zugang zu Massenmedien, das reformbedürftige Wahlgesetz, der Einsatz von Geld aus der Schattenwirtschaft oder auch direkter Stimmenkauf benachteiligend auf die politischen Kräfte aus, die ernsthaft Reformen umsetzen wollen und nicht auf oligarchische Finanzierung zurückgreifen können. „Die Unumkehrbarkeit des proeuropäischen Weges ist noch nicht erreicht!“, mahnte denn auch Serhiy Rakhmanin, Journalist vom „Dzerkalo Tyzhnia“ in Kiew. Der Osteuropa-Historiker Wilfried Jilge von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik wies darauf hin, dass „alte Kräfte“ in den Regionen auf ihr Comeback warteten und teils sogar durch die Zusammenlegung von Gemeinden im Zuge der Dezentralisierung wieder ins Amt gebracht würden. Auch Marie-Luise Beck vom Zentrum Liberale Moderne warnte vor der Rückkehr autoritärer Kräfte, die zwar nicht mit dem Gewehr kämen, aber mit guten Netzwerken zum Kreml, und die an altes sowjetisches Denken in der Bevölkerung anknüpfen könnten. Die Erwartung, dass russische Einmischung eine starke Rolle im Wahljahr spielen werde, wurde allgemein geteilt. „Man muss keine Kassandra sein, um das vorherzusagen“, wie Rostyslav Ogryzko, Gesandter-Botschaftsrat der Ukraine in Deutschland, es ausdrückte. Serhiy Rakhmanin erwartet allerdings weniger eine Einmischung in die Präsidentschaftswahl, da der Sieg eines prorussischen Präsidenten hoch unwahrscheinlich sei, sondern eher eine Konzentration der Bemühungen auf die Parlamentswahlen.

Veränderung von unten – Hoffnung auf der Zivilgesellschaft

In den Diskussionen der Konferenz lag ein Schwerpunkt darauf, wie die Wahlkämpfe sich – zum Teil bereits jetzt – auf die verschiedenen Regionen des Landes auswirken. Hierzu konnten vor allem die regionalen Koordinatoren der Kiewer Gespräche konkret berichten, um deren Tätigkeit das deutsch-ukrainische Format 2017 erweitert werden konnte und die Projekte zum Thema Stadtentwicklung und Bürgerpartizipation insbesondere in kleineren Städten voranbringen. Trotz konkreter regionaler Problemlagen wurde deutlich, dass die Hoffnung für die Ukraine auf der lokalen und regionalen Ebene und damit letztlich auf der immer aktiver werdenden Zivilgesellschaft liegt. Dies bestätigte etwa Yaroslav Yurchyshyn von Transparency International Ukraine: Die Vertrauenswerte für Politiker seien auf lokaler Ebene bei weitem nicht so verheerend wie auf nationaler, weil die politische Arbeit vor Ort für die Menschen direkt beobachtbar sei. Vladislav Zaitsev, regionaler Koordinator der Kiewer Gespräche in Mariupol, berichtete, wie seine Stadt im Osten des Landes zu einer der transparentesten der Ukraine geworden sei. Viele Menschen interessierten sich dafür allerdings nur, wenn sie, wie etwa bei der Einführung eines Bürgerhaushaltes, für sich eine praktische Relevanz erkennen könnten. Die Notwendigkeit, die Zivilgesellschaft politisch zu bilden und so langsam einen Wandel der politischen Kultur herbeizuführen, betonte auch Oleksandr Solontai, Vorsitzender der liberalen Partnerpartei der Stiftung für die Freiheit „Kraft der Menschen“. Der Ansatz seiner Partei, fest bei den eigenen liberalen Prinzipien zu bleiben und den langfristigen Aufbau einer echten demokratischen Partei von unten kurzfristigen Wahlerfolgen vorzuziehen, wurde von mehreren Experten honoriert und die noch kleinen reformorientierten Kräfte ermuntert, sich vor allem auf die Kommunalwahlen 2020 zu konzentrieren. Marie-Luise Beck riet zu einer Doppelstrategie – in Bezug auf Parlaments- und Lokalwahlen bei den eigenen Werten und Prinzipien zu bleiben, für die Präsidentschaftswahl aber auch Kompromisse einzugehen und ein „kleinstes Übel“ zu wählen. Wer dieses kleinste Übel darstellt, mochte aber niemand eindeutig bestimmen.

Zunehmende Bedrohung zivilgesellschaftlicher Aktivisten

Immer wieder kam die Zunahme von Angriffen und Bedrohungen gegen Politiker, Journalisten und Aktivisten auf regionaler Ebene zur Sprache. Aktuelle Fälle sind etwa Oleg Mykhailyk, Vorsitzender von „Kraft der Menschen“ in Odessa, der im September ein Sniper-Attentat nur knapp überlebte, und die Regionalkoordinatorin der Kiewer Gespräche Olga Altunina, die wegen ihrer Arbeit im Slowjansker Stadtrat derzeit persönlich bedroht wird und auch an der Konferenz teilnahm. Stefanie Schiffer, Leiterin des Europäischen Austauschs in Berlin, forderte die ukrainischen Behörden in deutlichen Worten zur Aufklärung und strafrechtlichen Verfolgung der Angriffe auf. Serhiy Rakhmanin erklärte das auffällige Schweigen der Kiewer Politik zu diesen Vorkommnissen damit, dass der Präsident auf die populären Bürgermeister mancher Städte setze, die ihm Wählerstimmen verschafften und im Gegenzug praktisch über dem Gesetz stünden und gegen Kritiker auch mit Gewalt vorgehen könnten.

Im Nachgang der Konferenz veröffentlichten die Kiewer Gespräche eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie fordern, dem Thema in den europäischen Beziehungen zur Ukraine höchste Priorität einzuräumen

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Lackmustest für die europäische Friedensordnung

Insbesondere das letzte Panel der Konferenz stellte das ukrainische Superwahljahr in den weiteren europäischen Kontext. Unvermeidlich ging es dabei auch um das kontroverse Thema der Pipeline „Nord Stream 2“. Ruprecht Polenz, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, sagte: „Energie ist für die Ukraine zentral, und deshalb ist Nord Stream 2 falsch.“ Auch die FDP-Bundestagsabgeordnete Renata Alt teilte nicht die Ansicht der Bundesregierung, hierbei handle es sich um ein rein wirtschaftliches Projekt. Sie kündigte eine Initiative für ein europäisches Energiekonzept an und forderte, schnellstens Gespräche mit Russland darüber aufzunehmen, wie die wirtschaftlich essentiellen Transitlieferungen durch die Ukraine auch über 2019 hinaus sichergestellt werden könnten. Omid Nouripour, Abgeordneter von Bündnis90/Die Grünen, gab zu bedenken, dass bei einer solchen Vereinbarung mit Russland eben das Vertrauen in Frage stünde.

In die europäische Richtung gerichtet sagte Wilfried Jilge, dass es zur Unterstützung der ukrainischen Reformprozesse nicht nur Druck brauche, sondern auch Anreize und solidarische Unterstützung. Die Ukraine sei für Europa von erheblicher Bedeutung und, wie Ruprecht Polenz es formulierte, „ein permanenter Lackmustest für die europäische Friedensordnung“.

Wie gewohnt boten die Kiewer Gespräche Ukraine-Interessierten und Experten eine einzigartige Möglichkeit des Austausches, der Vernetzung und des Erkenntnisgewinns. Im „Superwahljahr“ selbst werden die Gespräche turnusgemäß in der Ukraine stattfinden, und sie werden an Relevanz in den deutsch-ukrainischen Beziehungen sicher nicht verlieren. Rostyslav Ogryzko rief denn auch den Organisatoren zu: „Macht weiter!“

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