Nachruf
Ein großer bürgerlicher Liberaler
Es war vor etwa zwei Jahren, als mir Wolfgang Gerhardt eine Idee vortrug. Wie wäre es, so regte er an, wenn unsere Stiftung 175 Jahre nach der Konstituierung der Frankfurter Nationalversammlung 1848 in dem Weingut von Johann Adam von Itzstein zu Hallgarten im Rheingau eine Matinée veranstalten würde, bei der wir am Ort der legendären Treffen des berühmten liberalen Hallgartner Kreises im Vormärz an den damaligen Aufbruch des parlamentarischen Liberalismus erinnern? Genau dies fand dann im Mai 2023 statt, wenige Monate vor Wolfgang Gerhardts 80. Geburtstag – mit prominenten Gästen aus der Politik.
Die Idee war kein Zufall. Wie kaum ein zweiter Politiker im heutigen Deutschland war Wolfgang Gerhardt tief verwurzelt in der stolzen Tradition und schwierigen Geschichte des Liberalismus im 19. Jahrhundert. Freiheit in Verantwortung sowie vor allem Bildung und Fortschritt, dies waren die bürgerlichen Grundwerte, die damals der politische Liberalismus in der Frankfurter Nationalversammlung mit Leidenschaft und auf hohem Niveau der Diskussion vorantrieb. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich Wolfgang Gerhardt am Rednerpult der Paulskirche 1848 vorzustellen, irgendwo zwischen Friedrich Christoph Dahlmann, Heinrich von Gagern und Karl Theodor Welcker – als Vertreter eines ausgewogenen Liberalismus der Mitte, der mit eleganter Redekunst für eine Verfassung mit Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Religionsfreiheit sowie uneingeschränktem Wahlrecht plädiert. Tatsächlich hat Wolfgang Gerhardt 1989 als Hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst der Paulskirche ein Denkmal gesetzt, indem er die Herausgabe eines prächtigen Buches initiierte, das die damaligen Mitglieder der Nationalversammlung mit Bildporträts und Lebensläufen sowie Fraktions- und Ausschussmitgliedschaften vorstellt: Das Exemplar davon, das er mir schenkte, hat einen Ehrenplatz in meiner kleinen Bibliothek zu Hause.
In Redegabe und -stil hat Wolfgang Gerhardt stets ein höchstes Niveau gehalten. Polemik lag ihm völlig fern. Er überzeugte durch kluge Analysen, durchdachte Schlüsse und treffende Wortwahl. Seine Reden belegen es. Eine Auswahl von ihnen aus mehr als vier Jahrzehnten öffentlicher Tätigkeit wurde zu seinem 80. Geburtstag von der Friedrich-Naumann-Stiftung publiziert. Sie zeigt ihn als einen Politiker, der alle Themen, die er anpackt, intellektuell durchdringt und in freiheitlichem Geist zu den angemessenen Folgerungen führt. Auffallend dabei auch seine thematische Breite – kein Wunder, hatte er doch als Vorsitzender der FDP und der FDP-Bundestagsfraktion sowie später als Vorstandsvorsitzender unserer Stiftung stets verantwortliche Führungspositionen, in denen er das ganze Spektrum der Politik abdecken musste. Dies tat er stets mit souveräner Gelassenheit und Kompetenz sowie mit einem klaren Blick für das Wesentliche. Wer obendrein das Glück hatte, seine Reden „live“ zu hören – sei es im Plenum des Bundestags, in vollen Sälen oder wie bei Parteitagen in riesigen Hallen mit fast 1.000 Menschen, der erlebte Wolfgang Gerhardt mit jener leidenschaftlichen Sachlichkeit, die alle Anwesenden mitriss und auch politischen Gegnern höchsten Respekt abrang.
Jenseits der politischen Rede beeindruckte Wolfgang Gerhardt durch sein praktisches politisches Handeln. Es waren für den Liberalismus in Deutschland keine leichten Zeiten, in denen er Verantwortung trug. Dies gilt für seine Partei, die FDP, genauso wie für die Fraktionen im Hessischen Landtag und im Deutschen Bundestag, die er zu verschiedenen Zeiten zwischen 1983 und 2006 führte. Es obliegt anderen, über die Geschichte dieser Jahre mit Wolfgang Gerhardt zu berichten. Ich selbst konnte ihn nur aus der Ferne beobachten – und war von den Ergebnissen stets beeindruckt, gelang es ihm doch erkennbar, das liberale Team zusammenzuhalten, trotz des unter Liberalen üblichen Hangs zur individualistischen Meinungsstärke, der gerade in jenen Jahren besonders spürbar war. Menschliche Größe zeigte er vor allem auch, als er in der Auseinandersetzung um den Partei- und später Fraktionsvorsitz der FDP schließlich Guido Westerwelle als Vertreter einer neuen Generation den Vortritt ließ. Und als die FDP trotz guter Wahlergebnisse 2002 und 2005 nicht als Regierungspartei gefragt war und damit das – für ihn prädestinierte – Amt des Außenministers unerreichbar blieb, nahm er dies als Gentleman hin, ohne Missmut und Murren.
Im Jahr 2006 wurde Wolfgang Gerhardt dann Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung. Er rückte sogleich die Idee der Freiheit stärker noch als bisher in das Zentrum der Stiftung. Er war es, der ihr den Zusatz im Namen „für die Freiheit“ verschaffte. Er war es auch, der mit der jährlichen Rede zur Freiheit am Brandenburger Tor in Berlin sowie dem alle zwei Jahre in der Frankfurter Paulskirche vergebenen Freiheitspreis zwei neue, weithin sichtbare Veranstaltungen schuf, die der Ausstrahlung, Bekanntheit und Reputation der Stiftung zugutekamen. Und er war es – zusammen mit dem Vorsitzenden des Kuratoriums Jürgen Morlok, der nach dem Ausscheiden der FDP aus dem Deutschen Bundestag 2013 die Weichen für eine modernisierte Stiftungsarbeit stellte. Dies war auch der Zeitpunkt, als er mich fragte, ob ich bereit sei, für den Stiftungsvorstand als stellvertretender Vorsitzender zu kandidieren. Ich sagte ohne Zögern zu.
In den folgenden vier Jahren arbeiteten wir eng und vertrauensvoll im Vorstand zusammen. Erst jetzt lernte ich seinen Führungsstil aus nächster Nähe kennen und schätzen. Mit dem neuen Hauptgeschäftsführer Steffen Saebisch und dessen Team gelang es, die Stiftung in wesentlichen Elementen ihrer Organisation und Außenwirkung grundlegend umzugestalten. Dies galt praktisch für alle Bereiche – von der Kommunikation über die politische Bildung im Inland bis hin zur weltweiten Auslandsarbeit. Behutsam und besonnen, aber wenn nötig auch mit Härte wurden wichtige Weichenstellungen vorangetrieben. Untrüglich war dabei Wolfgang Gerhardts tiefes Grundgefühl für die richtige Tonlage, die geboten war, um schwierige Entscheidungen ohne allzu viel menschliche Verletzungen durchzusetzen.
Andere müssen beurteilen, ob die liberale Familie in jenen Jahren die Ziele ihrer Modernisierung erreichte – in der befreundeten Partei, der FDP, genauso wie in der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Als Wolfgang Gerhardt 2018 das Amt des Vorsitzenden an mich abgab und den Ehrenvorsitz übernahm, war die FDP 2017 wieder mit einem zweistelligen Wahlergebnis in den Bundestag eingezogen – ein Erfolg, den sie dann 2021 wiederholte. Dass die Stiftung längst wieder integraler und höchst produktiver Bestandteil der liberalen Familie geworden war, ist jedenfalls maßgeblich das Verdienst des Vorstandsvorsitzenden Wolfgang Gerhardt, der sie zwölf Jahre lang leitete, länger als alle seine Vorgänger.
Bis zu seinem Tod blieb Wolfgang Gerhardt der Stiftung als Ehrenvorsitzender eng verbunden. Ich habe in dieser Zeit in wichtigen Fragen der Stiftung stets seinen Rat eingeholt. War er zu Besuch in Berlin, führten wir lange, intensive Gespräche. War er zu Hause, rief ich ihn regelmäßig an, um seine Meinung zur Lage der Politik und zur Arbeit der Stiftung zu erfahren. Noch im Februar feierten wir gemeinsam in Wiesbaden seinen 80. Geburtstag. Joachim Gauck, der Bundespräsident, hielt die Festansprache. Das passte: Ein großer Repräsentant der bürgerlichen Freiheit aus dem Osten unseres Landes würdigte einen großen bürgerlichen Liberalen aus dem Westen. Unmittelbar nach dem Mauerfall, am 10. November 1989, hatte Wolfgang Gerhardt als Hessens Vertreter im Bundesrat von der Freiheit in Verantwortung als deutscher „Visitenkarte“ gesprochen. Für diese Freiheit in Verantwortung hat Wolfgang Gerhardt Zeit seines politischen Lebens gearbeitet. Wir sind ihm dafür zutiefst dankbar. Wir werden ihn und sein Werk nicht vergessen.