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Estnische Wähler lassen sich nicht in die Karten schauen

Was der Ausgang der Kommunalwahlen für die nationalen Wahlen bedeutet
Estland

Das Stimmungsbild, das sich am vergangenen Wochenende ergab, ist noch undurchsichtig.

© iStock/ MariaTkach

Im November 2016 hatten die Koalitionspartner der damals regierenden liberalen Reformpartei die Regierung verlassen und damit der Zentrumspartei unter Jüri Ratas zur Macht verholfen. Die Kommunalwahlen am Wochenende sollten der erste Stimmungstest dafür sein, ob der Wechsel bei den Wählern ankommt oder nicht. Der Wähler ließ sich aber nicht so einfach in die Karten schauen. Die Reformpartei kann sich allerdings über das Ergebnis freuen.

Unter der Ägide der Reformpartei, die bis zum Machtwechsel 2016 zehn Jahre lang das Land regierte, galt Estland als das liberale Musterland schlechthin. Kein anderes Land hatte sich so sehr dem Trend der Digitalisierung in allen Bereichen angepasst, kaum eine Regierung war so marktwirtschaftlich ausgerichtet. Unter der Regierung Ratas wurden viele Errungenschaften der vorherigen Regierung allerdings wieder rückgängig gemacht – Steuern wurden erhöht, Sozialprogramme ausgebaut, Schulden erhöht. Befürchtungen, dass die neue Regierung eine pro-russische Politik betreiben würde, wurden laut.

Für die liberale Reformpartei war deshalb die Kommunalwahl ein Test dafür, ob ihr unter ihrem neuen Vorsitzenden Hanno Pevkur ein Comeback gelingen würde. Schließlich war die Reformpartei nicht vom Wähler abgewählt worden, sondern verlor ihre Position durch einen Koalitionsbruch.

Reformpartei legt zu

Das Ergebnis lässt die Partei aufatmen. Mit 19,5 Prozent erzielte die Reformpartei landesweit ein um 5,8 Prozentpunkte besseres Ergebnis als bei der letzten Wahl 2013. In Tartu, der zweitgrößten Stadt, konnten sie ihren Bürgermeistersitz gut verteidigen. In der Hauptstadt Tallinn verdoppelte sie ihre Ratssitze von 9 auf 18 bei 20,5 Prozent der Stimmen.

Allerdings: Auch bei diesen Lokalwahlen – eine ihrer Domänen - bleibt die Zentrumspartei weiterhin die stärkste Partei. Trotz Verlusten von 4,6 Prozent hielt sie mit 27,3 Prozent Stimmenanteil den Spitzenplatz. Mit 44,4 Prozent konnte sie ihre Mehrheit (und das Bürgermeisteramt) in Tallinn locker verteidigen.

Zugewinn trotz schwieriger Ausgangslage

Dabei hatte es die Reformpartei diesmal schwerer als sonst. Zum einen war die Partei auf nationaler Ebene stets stärker als auf der kommunalen. Zum anderen platzte gerade in den Wahlkampfendspurt die Meldung, dass der frühere Ministerpräsident Taavi Rõivas wegen eines Vorwurfs der sexuellen Belästigung als Vizepräsident des Parlamentes zurücktreten musste. Sollte dieser Medienskandal die Chancen der Reformpartei schmälern? Oder nahm man der Partei die personelle Erneuerung unter Pevkur ab? Letzteres scheint eindeutig der Fall gewesen zu sein.

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Kleine Parteien im Abwind

Übel hingegen erging es einem der beiden früheren Koalitionspartner der Reformpartei, dessen Wechsel zur Zentrumspartei von vielen Liberalen als Intrigenspiel bewertet wurde. Während die Sozialdemokraten sich konstant halten konnten, musste die konservative „Pro Patria und Res Publica Union“ schwere Verluste hinnehmen. Sie stürzte von 17,2 Prozent auf 8 Prozent ab.

Die Sozialdemokraten konnten den Wechsel zur eher sozialpopulistischen Zentrumspartei inhaltlich begründen, wohingegen die marktliberalen und estnisch-nationalen Konservativen Schwierigkeiten hatten, dem Wähler zu erklären, warum sie ihren Idealpartner Reformpartei 2016 zugunsten einer nicht marktwirtschaftlichen und tendenziell russophil eingestuften Partei verließen. Die Partei befindet sich in einer Krise, die existenzgefährdend werden könnte. Zumindest der marktliberale Teil ihrer Wähler dürfte zur Reformpartei abgewandert sein, die dadurch allerdings langfristig einen wichtigen potentiellen Koalitionspartner auf nationaler Ebene verlieren könnte.

Chancen für 2019?

Die Ergebnisse von Kommunalwahlen sind nie ein vollständiges Spiegelbild nationaler Trends – dafür sorgt schon der Umstand, dass auf kommunaler Ebene 26,8 Prozent der Wähler für unabhängige Kandidaten stimmten. Das Stimmungsbild, das sich an diesem Wochenende ergab, ist daher noch undurchsichtig. Immerhin: Die Reformpartei kann selbst unter schwierigen Bedingungen gut reüssieren und ordentlich zulegen. Ihre Chancen für die nationalen Wahlen 2019 sind intakt. Aber die Zentrumspartei konnte die Stabilität ihrer Position ebenso beweisen. Auch ihre Chancen für die nationalen Wahlen 2019 stehen gut. Am Ende wird man sein Augenmerk auf die kleineren Parteien und potentiellen Koalitionspartner richten müssen. Das Rennen ist noch offen.

Im Vorfeld der Wahlen waren Befürchtungen aufgekommen, dass das in Estland stark ausgebaute System des digitalen E-Votings, das dem Wähler die Möglichkeit gibt, schon vor dem Wahltermin abzustimmen, Sicherheitslücken aufweise. Die Wähler ließen sich davon nicht abschrecken. Der Anteil der Wähler, der sich daran beteiligte, stieg von 24,4 Prozent (2013) auf 27,8 Prozent (2017). Die Wahlbehörde meldete keine Vorkommnisse.

Dr. Detmar Doering ist Projektleiter für Mitteleuropa und die Baltischen Staaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.