Antisemitismus
Haben wir in Deutschland ein Antisemitismus-Problem?
Die Frage stellt sich nicht erst seit bekannt wurde, dass während der Chemnitzer Demonstrationen auch ein jüdisches Geschäft angegriffen wurde: Haben wir in Deutschland ein Antisemitismus-Problem? Die Antwort muss leider deutlich mit Ja beantwortet werden – da waren sich die hochkarätigen Referenten auf dem Podium sowohl in Lübeck als auch in Schwerin einig.
Der Historiker Dr. Roman Töppel (Mitherausgeber von „Mein Kampf – eine kritische Edition“), der jüdische Rapper und YouTuber Ben Salomo und der Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern Yuriy Kadnykov diskutierten in der vergangenen Woche auf zwei Veranstaltungen des Regionalbüros Lübeck über Antisemitismus früher und heute.
Nachdem Dr. Roman Töppel einen kurzen anschaulichen Vortrag über den historischen Antisemitismus vor allem mit Fokus auf die 1920er bis 1940er Jahre und Hitlers stufenweise Ausbildung der Judenfeindlichkeit hielt, berichteten der Rabbiner und der Rapper aus ihrer jüdischen Lebenswelt. Ben Salomo sagt ganz klar: „Es gibt Gegenden in Berlin, in die ich nie mit Kippa gehen würde.“ Der Rapper, dessen Gesicht millionenfach über YouTube angesehen wurde und der seit Jahren auf Berlins Straßen als Jude erkannt wird, heißt mit bürgerlichem Namen Jonathan Kalmanovich. Sein erstes, von der Kritik gelobtes Soloalbum nannte er „Es gibt nur einen“ – war er doch bis dato der einzige Rapper, der sich offen zu seinem jüdischen Glauben bekannte. Und dass, obwohl er sich seit seinem 12. Lebensjahr antisemitischen Beleidigungen ausgesetzt sieht.
Der Antisemitismus in Deutschland ist nicht erst seit dem Echo-Skandal um die Rapper Kollegah und Farid Bang ein Thema. Im Deutschrap beispielsweise gibt es schon seit Jahren ein Antisemitismus-Problem. Ben Salomo, Gründer der erfolgreichsten Live-Battle-Rap-Liga in Deutschland – sein YouTube-Kanal RapAmMittwoch TV hat fast eine halbe Million Abonnenten – zog vor wenigen Monaten die Konsequenz und zog sich aus der Reihe aufgrund von Judenfeindlichkeit in der Rap-Szene zurück. Der Künstler sieht es sogar als gesamtgesellschaftliches Problem, denn Rapper seien Vorbilder für Millionen junge Menschen; antisemitische Tendenzen in den Texten wie beispielsweise „Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“ bilden den Nährboden für die Verharmlosung von Antisemitismus und letztlich auch für Judenhass.
Der Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern, der für 1500 Gemeindemitglieder zuständig ist, berichtete ebenfalls von alltäglichem Antisemitismus, beispielsweise, wenn in der Klasse seiner Tochter ein judenfeindlicher Witz erzählt und anschließend auf dem Elternabend thematisiert wird. Es gibt aber auch direkt judenfeindliche Angriffe: Immer wieder werden jüdische Friedhöfe geschändet, indem Davidsterne entfernt werden. Vor schlimmeren Anschlägen schützt sich die Gemeinde laut Yuriy Kadnykov in ihren Zentren mit Panzerglas.
Die gängigen Vorurteile, die seit Jahrzehnten Generation um Generation überleben: Juden wird vorgeworfen, sie seien gierig; sie wären die Drahtzieher einer großen Weltverschwörung und für die Israel-Politik muss sich auch jeder Jude, ob er nun aus Israel stammt oder nicht, rechtfertigen. Lauscht man den lebhaften Erzählungen der Referenten, wird schnell klar: Auch im Jahr 2018 ist es für Juden alles andere als einfach in Deutschland. Denn der Antisemitismus kommt von gleich drei Seiten: von rechts aus neonazistischen Kreisen, von linken Israel-Kritikern und von antisemitischen Muslimen.
Der Historiker Dr. Roman Töppel sieht die Grundlage für die ausgeprägte Judenfeindlichkeit u. a. in Angst, die grundlos geschürt wird – es wird ein Schuldiger für die eigenen Probleme gesucht. Gehirnwäsche funktionierte schon bei den Nazis immer über Emotionen, so Töppel in seinem Einführungsreferat.
Wie man als junger Mensch reagieren soll, wenn antisemitische Witze gerissen werden, fragt eine 16-jährige Schülerin aus Lübeck: Eine schwierige und gute Frage, so die Referenten; nicht mitzulachen ist schon mutig, sich mit denjenigen auseinanderzusetzen, die nicht beratungsresistent sind und vor allem nach dem „Warum“ zu fragen, ist eine weitere Möglichkeit.
Die Diskussionen in Lübeck und Schwerin wurden sehr emotional geführt, viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde waren anwesend. Letztendlich reichten zwei Stunden bei weitem nicht aus, dieses vielschichtige Thema zu diskutieren. Die Referenten mussten noch lange nach den Veranstaltungen in privaten Gesprächen Rede und Antwort stehen.
Ein Rapper und ein promovierter Historiker auf dem Podium: ein Experiment, das geglückt ist und fortgeführt werden sollte. Vor allem an Schulen – denn, so der Rechtsextremismusexperte Christoph Giesa, der beide Podiumsdiskussionen leitete: „Gerade junge Menschen müssen für dieses Thema sensibilisiert werden.“