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Gleichstellung
Historisches Urteil stärkt Rechte von Homosexuellen

Indiens Oberster Gerichtshof erklärt 160 Jahre alten Paragraphen für verfassungswidrig
Mixtur der Flaggen Indiens und der "LGTB"-Bewegung

Indien stärkt die Rechte Homosexueller

© Alexis84 / iStockPhoto / Getty Images Plus

Indiens Oberster Gerichtshof erklärte vor wenigen Tagen den Paragraphen 377 des Indischen Strafgesetzbuches für verfassungswidrig. Der vor fast 160 Jahren unter britischer Kolonialherrschaft eingeführte Paragraph stellte sexuelle Handlungen ‚wider der natürlichen Ordnung‘ unter Strafe. Neben Vergewaltigungen waren damit auch einvernehmliche non-vaginale sexuelle Handlungen illegal. Die fünf Richter fällten ihr Urteil am 6. September 2018 einstimmig. In der Urteilsbegründung sagte Indiens oberster Richter Dipak Misra, dass Paragraph 377 „irrational, unhaltbar und willkürlich“ und damit verfassungswidrig sei.

Dem Urteil vorausgegangen war ein jahrzehntelanger Kampf. Nach einer ersten erfolgreichen Klage der indischen Naz Foundation im Jahr 2001 wurde der Paragraph 377 bereits im Jahr 2009 schon einmal für verfassungswidrig erklärt. Das Urteil wurde nach Klagen religiöser Gruppen im Jahr 2013 allerdings wieder aufgehoben. Seitdem stärkte der Oberste Gerichtshof durch teilweise spektakuläre Entscheidungen Bürgerrechte in Indien. So erkannten die Richter bereits im Jahr 2014 ein weiteres Geschlecht neben männlich und weiblich an und forderten die Regierung auf per Gesetz die Rechte von Transgender-Personen zu stärken – das Gesetz ist allerdings bis heute nicht verabschiedet. Im Jahr 2017 befanden die Richter, dass das durch die Verfassung geschützte Recht auf Leben und Recht auf Eigentum auch das Recht auf Privatsphäre einschließt. Der Stein des Anstoßes war die landesweite Einführung eines biometrischen Ausweisdokuments. In ihrer Urteilsbegründung gingen die Richter 2017 allerdings weit über den Gegenstand der Klage hinaus und führten explizit aus, dass sexuelle Intimität und sexuelle Orientierung ebenso durch das Recht auf Privatsphäre geschützt sind.

Die Entscheidung, den Paragraphen 377 für verfassungswidrig zu erklären, ist damit im Licht zahlreicher Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit nicht ganz überraschend. Anders als 2009 sind die Hürden, das Urteil wieder aufzuheben dieses Mal bedeutend höher. Je mehr Richter an einer Urteilsfindung beteiligt sind, umso schwerer wiegt das Urteil. Der Prozess ist eine direkte Konsequenz des Privatsphäre-Urteils von 2017, das von neun Richtern – der Höchstzahl für einen Prozess am Obersten Gericht – gefällt wurde.

"Queer Pride Parade" in Delhi, 2010

Feiernde Inder während der "Dehli Queer Pride Parade" 2010

© wiki commons // Noopur28

Das Urteil ist auch ein Zeugnis gesellschaftlichen Wandels in Indien. Die erste Gay Pride in Indien fand 2008 in Bengaluru (früher Bangalore) statt, 2009 gab es gerade mal in einer Handvoll indischer Städte ähnliche Veranstaltungen, oft mit nur ein paar dutzend Teilnehmern. Im Jahr 2018 gibt es kaum noch eine indische Großstadt, in der keine Gay Pride stattfindet. An der Mumbai Pride, der größten indischen Gay Pride, nahmen 2018 deutlich über 10.000 Menschen teil. Vor allem außerhalb der Großstädte ist es aber nach wie vor fast unmöglich, sich zu seiner sexuellen Orientierung oder sexuellen Identität zu bekennen. Das Urteil des Obersten Gerichts hat damit für viele Menschen in Indien eine überwiegend symbolische Wirkung. Durch das Urteil werden zwar zunächst einvernehmliche non-vaginale sexuelle Handlungen legal, doch das Recht auf Ehe und die Adoption von Kindern sowie das Erbschaftsrecht bleiben von dem Urteil weiterhin unberührt. Der Kampf für gesellschaftliche Akzeptanz wird noch Jahrzehnte dauern.