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Türkei
„Im Osten nichts Neues“

Festnahme von Akademikern und Kulturschaffenden in der Türkei
Die Europäische Union zeigte sich angesichts der Festnahmen von Akademikern und Aktivisten besorgt;

Die Europäische Union zeigte sich angesichts der Festnahmen von Akademikern und Aktivisten besorgt.

© iStock Editorial / Getty Images Plus / BalkansCat

Heute steht erneut ein Deutscher in der Türkei vor Gericht. Sieben Monate war der Journalist und Kölner Sozialarbeit Adil Demirci in Untersuchungshaft, nun wird ihm wegen angeblicher Verbindungen zu Terroristen der Prozess gemacht. Demirci wird vorgeworfen, unter anderem Mitglied der linksextremen, in der Türkei als Terrororganisation geltenden Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei zu sein. Demirci zählt wie Journalist Deniz Yücel und Menschenrechtler Peter Streudtner zur Gruppe deutscher Staatsbürger, die aus politischen Gründen in der Türkei im Gefängnis sitzen.

Was in Deutschland alle paar Wochen für Aufruhr sorgt, ist für die türkischen Bürger trauriger Alltag: Furcht vor Denunziation und Willkür der Beamten. In einer groß angelegten Polizeiaktion gingen Sicherheitsbeamte der Abteilung „Organisiertes Verbrechen“ vor kurzem gegen Akademiker und Mitglieder der Zivilgesellschaft vor.

Noch vor wenigen Tagen hatte Ibrahim Kalın, Sprecher und Berater von Präsident Erdoğan, in Ankara vor ausländischen Journalisten erklärt, er hoffe, der Fall Kavala werde „bald gelöst“. Doch die Realität sieht wieder einmal ganz anders aus: In einer groß angelegten Polizeiaktion in den Provinzen Istanbul, Antalya, Adana und Muğla gingen Sicherheitsbeamte der Abteilung „Organisiertes Verbrechen“ gegen Akademiker und Mitglieder der Zivilgesellschaft vor. Nachrichtenagenturen zufolge richtete sich die Operation gegen 20 Personen aus dem Umfeld des Vorsitzenden des Kulturinstituts Anadolu Kültür, Osman Kavala. 13 der 20 Gesuchten seien festgenommen worden. Die Aktion erfolgte nur einen Tag, nachdem die Türkei-Berichterstatterin des EU-Parlaments, Kati Piri, der EU-Kommission in einem Bericht empfohlen hatte, die Beitrittsverhandlungen mit Ankara wegen zahlreicher Menschenrechtsverletzungen einzufrieren und als Begründung u.a. die fortdauernde Haft Kavalas erwähnt hatte. Der Unternehmer und Kulturmäzen Osman Kavala befindet sich schon seit einem Jahr in Untersuchungshaft. Es gibt weiterhin keine Anklageschrift gegen ihn. Sein renommiertes Institut Anadolu Kültür setzt sich dafür ein, durch Kulturprojekte zum Abbau der Spannungen und zur Verständigung zwischen den Volksgruppen in der Türkei beizutragen. Die NGO kooperiert mit zahlreichen internationalen Organisationen, u.a. dem Goethe-Institut.

Kavala wird nach Angaben seiner Anwälte u.a. vorgeworfen, in Verbindung mit Ausländern gestanden zu haben, die eine „Rolle“ beim Putschversuch vom Juli 2016 gespielt haben sollen. Außerdem werde ihm – im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Park-Protesten von Sommer 2013 – versuchter Umsturz der Regierung vorgeworfen. Die damaligen Proteste hatten sich im Zentrum Istanbuls entzündet, weil die Regierung plante, den dortigen kleinen Park zu bebauen. Nach einem Einsatz der Polizei gegen Umweltschützer, die die Grünanlage nahe dem symbolträchtigen Taksim-Platz besetzt hatten, hatten sich die Proteste ins ganze Land ausgeweitet. Der damalige Regierungschef und heutige Präsident Erdoğan wertete die landesweiten Proteste seinerzeit als „Umsturzversuch“ und ließ sie gewaltsam niederschlagen.

Die Zeitung Cumhuriyet berichtet unter Berufung auf die Polizei, dass die 20 Verdächtigen mit Kavala zusammengearbeitet hätten. Gemeinsam hätten sie – so die Anschuldigung – die Gezi-Demonstrationen auszuweiten versucht; z.B. hätten sie „Ausbilder“ und „Aktivisten“ für die Proteste aus dem Ausland in die Türkei gebracht. Dies mag eine bizarre Interpretation der Vorgänge sein, aber sie hat aus Sicht derer, die an sie glauben, eine große innere Logik. Unter den Festgenommenen befinden sich u.a. die bekannte Mathematikprofessorin Dr. Betül Tanbay von der renommierten Boğaziçi-Universität, der stellvertretende Dekan der juristischen Fakultät der Bilgi-Universität, Prof. Dr. Turgut Tarhanlı, ein Vorstandsmitglied der türkischen Vertretung von Open Society Foundation (OSF) des US-Milliardärs George Soros sowie zahlreiche Mitarbeiter des Kulturinstituts Anadolu Kültür. Erdoğan hatte Kavala, der ebenfalls dem Vorstand des türkischen Ablegers der OSF angehört, einmal als „türkischen Soros“ bezeichnet. Yusuf Cırcır, einer der Regisseure des Theaterstücks „Mi Minör“, dem vorgeworfen wurde, die Gezi-Demonstrationen in seinem Stück thematisch aufzugreifen, befindet sich ebenfalls unter den Festgenommenen. Der Vizechef von Anadolu Kültür, Yiğit Ekmekçi, der Akademiker Turgut Tarhanlı sowie sechs weitere Festgenommene sind in der Zwischenzeit unter Auflagen wieder auf freiem Fuß.

Kritik aus dem Ausland rührte sich prompt. Die Europäische Union zeigte sich angesichts der Festnahmen von Akademikern und Aktivisten besorgt; Sprecher der EU bezeichneten die Vorgänge laut Medienangaben als „alarmierend“. Die Behörden müssten „eine schnelle Lösung“ finden, hieß es in einer Mitteilung. Die EU werde die wiederholten Festnahmen von Kritikern und den Druck auf Vertreter der Zivilgesellschaft weiter zum Thema machen – als nächstes bei einem hochrangig besetzten „Politischen Dialog“ am 22. November in Ankara, an dem u.a. die Außenbeauftrage der Union, Federica Mogherini, und der EU-Kommissar für Erweiterung, Johannes Hahn, beteiligt sein sollen. Auch Washington äußerte sich zu den Verhaftungen: Auf der Twitter-Seite der US-Botschaft Ankara hieß es: „Die USA sind besorgt über die Festnahmen von Akademikern, Aktivisten und Journalisten im Rahmen der Ermittlungen gegen Anadolu Kültür. Wir rufen die Türkei auf, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit zu respektieren sowie die grundlos verhafteten Menschen freizulassen.“

Der Menschenrechtsorganisation Amnesty International zufolge basieren die Festnahmen auf „absurden Vorwürfen“. Jede Illusion, dass es nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes in der Türkei zu einer „Normalisierung“ kommen werde, würden durch das harte Durchgreifen zerstört, hieß in einem Statement der Organisation. Die türkischen Behörden gingen „verzweifelt“ gegen jede Form von Dissens vor. Dass die Verhaftungen Teil der Ermittlungen gegen Kavala sind, sieht Amnesty als „bezeichnend“ an. „Osman Kavala und alle, die heute festgenommen wurden, müssen sofort und bedingungslos freigelassen werden. Das Durchgreifen gegen die unabhängige Zivilgesellschaft der Türkei muss beendet werden.“

Der türkische Oppositionsabgeordnete Sezgin Tanrıkulu von der kemalistisch-laizistischen CHP twitterte: „Jene, die von diesem Regime eine ‚Normalisierung‘ erwarten, sollen weiter träumen.“ Kommentator Aydın Engin von der Nachrichtenwebseite T24 erinnerte daran, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Kavala von Ankara bis Jahresende eine Stellungnahme verlangt habe. Offenbar, so Engin, sei die Staatsanwaltschaft nicht in der Lage, eine Anklageschrift für Kavala zu verfassen. Deshalb weite sie nun die Festnahmen aus.