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Jordanien
Jordanien: Sturm im Wasserglas oder Impuls für Reformen?

Über die Agenda der neuen Regierung
Proteste in Jordanien

Demonstration am 4. Zirkel in Amman in der Nähe des Regierungssitzes des gestürzten Premierminierst Dr. Hani Al-Mulki im Juni 2018

© Ahmed Rashad

Die Proteste auf den Straßen sind verstummt, das Kabinett umgebildet, die geplanten Steuererhöhungen zurückgenommen, wirtschaftlicher Aufschwung zur Priorität der neuen Regierung erklärt. Wieder einmal: Im Schnitt wird in Jordanien einmal pro Jahr die Regierung komplett oder teilweise ausgewechselt; zuletzt im Februar des vergangenen Jahres – nur behielt der nun gestürzte Premierminister damals seinen Posten. Das Thema Wirtschaft steht auf der Agenda einer jeden Regierung – und das bereits seit 25 Jahren. Kehrt Jordanien nun also schlicht zur alten Tagesordnung zurück? Die Demonstrationen vom Juni dieses Jahres waren die größten Proteste in der Geschichte des Landes und manche Beobachter sahen bereits einen neuen Arabischen Frühling keimen. Aber waren sie doch nicht mehr als ein Sturm im Wasserglas?

Seit Jahren ist das Haschemitische Königreich in einem Dilemma gefangen: Einerseits sieht sich das Land zu politischen und wirtschaftlichen Veränderungen gezwungen, um den sozialen Frieden und die Stabilität im Inneren gegen alle Einflüsse durch die Konflikte und Kriege in den Nachbarstaaten zu verteidigen. Dabei steuert es mit bemerkenswerter Besonnenheit als Mittler für Frieden und Verständigung durch die ständig aufflammenden Brandherde im Nahen Osten und ist zum sicheren Zufluchtsort so vieler Heimatloser geworden. Andererseits gilt es genau jene Stabilität keinen Entwicklungen auszusetzen, die auf Widerstand in der eigenen Bevölkerung stoßen – Jordanien braucht Stabilität um fast jeden Preis. Doch auf welch fragilem Fundament diese Stabilität gebaut ist, wird nun offenbart.

Seit der Geburtsstunde des Staates, seiner Unabhängigkeit 1946 von der britischen Besatzung, ist der wasser- und rohstoffarme Wüstenstaat von ausländischen Hilfsgeldern und Ressourcen – vor allem Wasser und Energie – abhängig. Mit der Aufnahme palästinensischer Flüchtlinge nach der Staatsgründung Israels begann das rasante Bevölkerungswachstum – rund 60 Prozent der heutigen Einwohner sind ihrer Herkunft nach Palästinenser; allein seit 1990 hat sich die Bevölkerung nicht nur durch die Geburtenrate, sondern vor allem auch durch die weitere Aufnahme von Vertriebenen und Flüchtlingen aus Irak, Kuwait, Libanon, Jemen, Libyen, darunter auch immer wieder Palästinenser, auf 9,7 Millionen Menschen verdreifacht.

Hinzu kommen die 650.000 bei den Vereinten Nationen registrierten und hilfsbedürftigen syrischen Flüchtlinge; die Regierung selbst spricht von 1,3 Millionen Syrern, die seit 2011 nach Jordanien gekommen sind. Dass solche Entwicklungen jede Verwaltung, jedes Gesundheitswesen, jedes Schulsystem, jeden Wohnungsmarkt sprengen, steht außer Frage. An dieser Stelle ist die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft tatsächlich eine Pflicht – und diese zeigte sich über die Jahrzehnte auch solidarisch. Sei es, weil Jordanien ein strategisch wichtiger Verbündeter in einer Krisenregion ist, sei es, weil das Land als Pufferstaat zwischen Israel und seinen Rivalen fungiert oder sei es, weil es Flüchtlingsströme absorbiert.

Desolate Wirtschaft durch versäumte Reformen

Mit dieser Unterstützung aus dem Ausland konnte Jordanien nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch die eigene Bevölkerung versorgen – auf einem sehr bescheidenen, aber annehmbaren Niveau mit einem respektablem Bildungssystem und Gesundheitswesen sowie sozialen Programmen für die ärmsten Bevölkerungsschichten. Aber das Land krankt an einer desolaten Wirtschaft mit immer weiter steigender Arbeitslosigkeit, Insolvenzen, hohen Hürden für Unternehmensgründungen und ausufernder Bürokratie mit einem Wirrwarr an Anlaufstellen und Prozessen.

Jordanien deckte bisher mit den Hilfen aus dem Ausland seine laufenden Kosten, aber hat es schon seit zwei Jahrzehnten versäumt, tatsächlich nachhaltig zu investieren und durch Strukturreformen seine Wirtschaftskraft zu stärken, die Arbeitsplätze schafft und den Menschen ein Auskommen ohne Subventionen ermöglicht. Die zarten Reformbemühungen entfalten angesichts der gewaltigen Herausforderungen keine Wirkung, nachdem im Zuge des arabischen Frühlings die wichtigen Handelsbeziehungen mit Syrien zusammenbrachen und der für die Wirtschaft zentrale Tourismus ebenso zurückging.

Proteste in Jordanien

Wirtschaftsfrühstück mit Dr. Omar Al-Razzaz (re), damals noch Bildungsminister, zum Thema „Education and the Digital Economy“ im September 2017

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Nun reduzierten im vergangenen Jahr die USA ihre Hilfsgelder; Saudi-Arabien drehte den Geldhahn komplett zu. Zu Jahresbeginn gingen die Zahlungen der internationalen Gemeinschaft erneut nur schleppend ein. Der Internationale Währungsfonds (IWF) forderte im Rahmen einer 2016 vereinbarten Kreditlinie in Höhe von rund 617 Millionen Euro Strukturreformen und insbesondere eine Erhöhung des Steueraufkommens mit dem Ziel, die Staatsverschuldung von derzeit rund 94 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 77 Prozent im Jahr 2021 zu senken.

Entsprechend versuchte die mittlerweile abgesetzte Regierung Ausgaben zu reduzieren und Einnahmen zu steigern. So wurden in mehreren Schritten Subventionen abgebaut; die Preise für Brot, Strom, Trinkwasser, Benzin und Internetanschluss stiegen – teils um den halben, teils auf den doppelten Preis und die nächsten Steigerungen kündigten sich bereits an. Schließlich wollte die Regierung dem Parlament ein Steuerreformpaket vorlegen, dass eine Umsatzsteuer für landwirtschaftliche Produkte vorsah, die Umsatzsteuer um 20 bis 40 Prozent erhöhen und auch die Einkommenssteuer um mindestens fünf Prozent heben sollte – einschließlich einer Ausweitung auf Jahreseinkommen bereits ab rund 9.700 Euro.

Das Bangen der Mittelschicht um ihren bescheidenen Lebensstandard

Auf den unerwartet heftigen Widerstand reagierte der mittlerweile gestürzte Premierminister Hani Al-Mulki mit völligem Unverständnis und mit der Bemerkung, dass ohnehin nur vier Prozent der Bevölkerung Steuern zahlten. Mit dieser Aussage traf er durchaus den Kern des Problems: Die Arbeitslosigkeit in Jordanien liegt bei 18,4 Prozent – dem höchsten Stand seit 25 Jahren. Besonders betroffen ist die Jugend, von der 40 Prozent keine Arbeit hat – äußerst bedenklich mit Blick darauf, dass das Durchschnittsalter der Bevölkerung bei nur 22 Jahren liegt. Die Einkünfte sind mit durchschnittlich 6.000 Euro pro Jahr so gering, dass tatsächlich nur ein Bruchteil der Bevölkerung steuerpflichtig ist, davon wiederum die Mehrheit zu den unteren steuerpflichtigen Einkommensbereichen zählt.

Höhere Preise, weniger Einkommen – eine „Politik der Verarmung“ wurde der Regierung vorgeworfen. Der daraus resultierende Zorn hatte diesmal eine eigene Dynamik. Nicht etwa die Muslimbrüder oder gar Gegner des königlichen Königshauses, sondern Gewerkschaften, Berufs- und Wirtschaftsverbände riefen zum ersten landesweiten Streik in der Geschichte des Staates auf. Selbst Zulieferer, der Obsthändler um die Ecke, der kleine Fleischer, der Gemischtwarenhändler, die sich an den Protesten des Arabischen Frühlings nicht beteiligt hatten, weil Rebellion schlicht schlecht fürs Geschäft ist, schlossen ihre Rollläden für einen Tag. Nach dem abendlichen Fastenbrechen im Ramadan versammelten sich nicht etwa die Menschen in den tatsächlich kärglichen Gegenden des Landes, sondern Ärzte, Unternehmer, gut ausgebildete Jugendliche kamen in allen größeren Städten zusammen und forderten, die Steuerreform zurücknehmen, Steuerhinterziehung zu bekämpfen und gegen Korruption vorzugehen.

Proteste in Jordanien
Es ist die Mittelklasse, die sich erhebt und ihren bescheidenen Lebensstandard in Gefahr sieht. © Freedom´s Falcon/ CC BY-SA 3.0 commons.wikimedia

Es ist die Mittelklasse, die sich erhebt und ihren bescheidenen Lebensstandard in Gefahr sieht, wenn Löhne stagnieren, die Inflation steigt, sich die Abgaben erhöhen und auch bescheidene Konsumgüter und Dienstleistungen nicht mehr erschwinglich sind. Laut „Economist“ ist trotz der Subventionen Jordaniens Hauptstadt Amman die teuerste Stadt im arabischen Raum, noch vor Dubai oder Doha. Tatsächlich sprießen im westlichen Teil der Vier-Millionen-Metropole hochpreisige Wohnhäuser wie Pilze aus dem Boden, ragen glitzernde Sterne-Hotels in den Himmel, treiben enorme Zölle die Preise für Importwaren – Käse, Wurst, Sprudelwasser – in den Einkaufszentren in die Höhe und verschlingt der Restaurantbesuch zu zweit auch schnell eine dreistellige Summe. Das ist ein Lifestyle, der selbst der jordanischen Mittelklasse in der Regel verschlossen bleibt.

Um Zugang zu diesem Teil der Gesellschaft zu erlangen, dafür demonstrieren die Jordanier gar nicht. Aber sie sehen das soziale Gefüge erodieren – dort eine Elite, für die Geld keine Rolle spielt, und hier die Masse der Bevölkerung, von der immer mehr Menschen selbst um eine bescheidene Existenz kämpfen müssen. Zur wirtschaftlichen Schwäche kommt Wasta, die arabische Variante der Vetternwirtschaft, die darauf zurückzuführen ist, dass Loyalität gegenüber der Großfamilie oder auch dem Stamm stärker wiegt als gegenüber dem Staat – und deshalb auch nicht zwangsläufig als Form der Korruption wahrgenommen wird, sondern mehr als Schmiermittel für das eigene Vorankommen. Häufig beschränkt sich wasta auch auf simple gegenseitige Hilfe im alltäglichen Leben. König Abdullah II selbst thematisiert immer wieder, dass Rechtsstaatlichkeit und Qualifikation sowie Leistung bei der Vergabe von Arbeitsstellen an die Stelle von Vetternwirtschaft treten muss.

Die fragile Stabilität zwischen hohen Staatsausgaben und Interessenkonflikten

Seitdem sich die wirtschaftliche Spirale immer weiter abwärts dreht und das Ringen auf dem Arbeitsmarkt zunimmt, sehen auch die Jordanier Wasta zunehmend als Missstand, der sozialen Aufstieg verhindert, weil Seilschaften mehr zählen als Leistung, der gut ausgebildete junge Menschen an den Golf oder in andere Staaten treibt, die attraktive Perspektiven bieten. Darüber hinaus versickern aber eben auch Gelder in undurchsichtigen Kanälen: Jordanien teilte sich im vergangenen Jahr 2017 Platz 59 des Korruptionsindex mit Griechenland und Rumänien.

Hinzu kommen die immensen Staatsausgaben für den öffentlichen Dienst; die Kosten für Sicherheit werden nicht veröffentlicht, aber allein die massive Präsenz von Militär im täglichen Leben lässt darauf schließen, dass sie enorm sind. Doch wer mag dies kritisieren angesichts des Brandherdes, in deren Mitte sich Jordanien befindet? Auch die Ausgaben für die königlichen Institutionen und Angehörigen sind intransparent – Kritiker sehen diese als Teil des Problems. Fakt ist aber, dass das Königshaus im Gegensatz zu anderen Herrscherhäusern auch weise und friedlich auf innere Konflikte reagiert und die Menschen zusammenhält – König Abdullah II ist der Garant für Stabilität, unterstützt politische und wirtschaftliche Reformen in seinem Land aber keineswegs nur zum Machterhalt.

Er hat in den letzten Tagen und Wochen zahlreiche Gespräche geführt, Hilfen aus den USA, Kuwait, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und Iran eingeworben. Dies ist nicht nur eine stattliche Zahl von Unterstützern, sondern umfasst auch Länder widersprüchlicher Interessen, die jederzeit ihre Zahlungen wieder einstellen werden, wenn ihnen das Verhalten des Königsreiches in bestimmten politischen Fragen nicht genehm ist. Deshalb sind alle Angebote nur eine Möglichkeit, Zeit zu gewinnen, um die tatsächlichen Probleme zu lösen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel reiste vorige Woche mit einem Darlehensangebot von 87 Millionen Euro nach Jordanien, zusätzlich zu den Mitteln im Rahmen der Entwicklungsförderung in Höhe von 384 Millionen Euro. Sie sagte während ihres Besuches, dass Deutschland den Flüchtlingen helfen wolle, aber darüber nicht vergessen werden dürfe, dass auch die Einheimischen eine gute Zukunft haben müssen. Deshalb wurde sie von einer kleinen Wirtschaftsdelegation begleitet, die mit Regierungsvertretern über Investitionen und Handelsbeziehungen sprach. Nicht zuletzt sind in Amman zahlreiche internationale und deutsche Organisationen angesiedelt, die Jordanien zum Beispiel bei der Reform des Ausbildungssystems unterstützen.

 

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Eine Chance auf neue Perspektiven für die Zukunft

Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit organisierte zu Jahresbeginn eine Bildungsreise für eine Delegation der jordanischen Industriekammer nach Deutschland, um einen tieferen Einblick in die Duale Ausbildung zu ermöglichen. In Brüssel tauschten sich die jordanischen Experten mit Vertretern europäischer Institutionen über das Europäisch-Jordanische Handelsabkommen von 2016 aus, auf dessen Grundlage nach zwei Jahren gerade einmal zehn jordanische Unternehmen in die Europäische Union exportieren können. Solche Partnerschaften, die auch Jordanien größere Unabhängigkeit von reinen Hilfsgeldern ermöglichen, gilt es zu stärken und zum Laufen zu bringen.

Wenngleich Regierungen in Jordanien rasant wechseln und auch der unserer Stiftung nahestehende neue Premierminister Omar Al-Razzaz alle Erwartungen auf Wunder dämmte und das Steuerreformpaket nicht zurücknehmen, sondern lediglich modifizieren will, so könnte genau er die Impulse setzen, die für tatsächliche Reformen notwendig sind: Al-Razzaz ist Wirtschaftsexperte aus der Harvard-Schmiede, besitzt Verhandlungs- und Kommunikationsgeschick, und hat als Bildungsminister in der Regierung seines Vorgängers Hani Al-Mulki Reformen in einem Ministerium umgesetzt, das über Jahre von der Muslimbruderschaft dominiert wurde und als reformresistent galt. Er ist bescheiden und im Volk wegen seiner persönlichen Glaubwürdigkeit beliebt: Die Demonstranten geben ihm die Chance, ihre Forderungen umzusetzen. Mit harten Einschnitten rechnen die meisten und würden sie annehmen, wenn sich ihnen im Gegenzug tatsächlich neue Lebensperspektiven für ihre Zukunft öffnen.

Constanze Sturm ist Projektassistentin Nordafrika und Mittlerer Osten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Amman.

Für Medienanfragen kontaktieren Sie unsere Jordanien-Expertin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Constanze Sturm
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Telefon: +962 655 32 994