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Präsidentschaftswahl in der Ukraine
Keine Einheit für die Freiheit

Liberale positionieren sich für Präsidentschaftswahl in der Ukraine
Der liberal-konservative Präsidentschaftskandidat A. Grytsenko

Der liberal-konservative Präsidentschaftskandidat A. Grytsenko

© Khrystyna Bondarenko

Wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl am 31. März 2019 ist keine Einheit im liberalen Lager der ukrainischen Politik zu erkennen. Die Gründe sind unterschiedliche Interessenlagen und Herangehensweisen an die Politik.

Der Präsidentschaftswahlkampf in der Ukraine ist seit Jahresbeginn in vollem Gange und sein Ausgang ungewiss. Auf dem ersten Platz aller Umfragen liegt seit Monaten Julia Timoschenko mit derzeit 16,1 Prozent derer, die vorhaben zu wählen. Präsident Petro Poroschenko hat sich in neueren Umfragen auf 13,8 Prozent gesteigert. Der prorussische Kandidat Jurij Boiko kommt auf 8,4 Prozent, ein Sieg in der zweiten Runde dürfte aber ausgeschlossen sein. Ernstzunehmende Umfragewerte haben außerdem der Komiker Volodymyr Selenskij mit 8,8 Prozent und der Chef der „Radikalen Partei“ Oleh Liaschko mit 6,9 Prozent. Im selben Feld bewegt sich auch der liberal-konservative Kandidat Anatoli Grytsenko mit derzeit 6,8 Prozent. Der populäre Sänger Swiatoslaw Wakartschuk – lange Zeit mit ähnlich guten Umfragewerten gehandelt – hat kürzlich mitgeteilt, nicht kandidieren zu wollen. Insgesamt haben über 30 Personen angekündigt, an der Präsidentschaftswahl teilzunehmen. Viele von ihnen sind allerdings so genannte „technische Kandidaten“– ins Rennen geschickt, um politischen Gegnern Stimmen abzujagen oder Vertreter in die Zentralen Wahlkommissionen entsenden zu können.

Grytsenko, Ex-Verteidigungsminister und Vorsitzender der „Bürgerposition“, einer der beiden Partnerparteien der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, hatte 2018 über Monate auf Platz zwei der Umfragen gelegen und die Hoffnung geweckt, dass ein liberaler Kandidat eine Chance auf Einzug in die Stichwahl oder gar auf die Präsidentschaft hat. Er kann politische Erfahrung vorweisen, sich auf eine vor allem im Westen des Landes verankerte Parteiorganisation stützen und sticht unter den Kandidaten vor allem durch seine geringen „Misstrauenswerte“ heraus. Sein Wahlslogan „Die Ehrlichen sind in der Mehrheit“ verweist auf sein Hauptziel: der alles durchdringenden und die Entwicklung des Landes behindernden politischen Korruption den Garaus zu machen. In einer Stichwahl würde er nach heutigen Umfragen gegen Poroschenko klar und gegen Timoschenko vielleicht gewinnen. Dennoch sind seine Chancen als Einzelkämpfer gering, da er weder über große finanzielle Reserven verfügt noch Zugang zu den meistgesehenen Fernsehkanälen hat, die eine entscheidende Rolle für die politische Einflussnahme durch die ukrainischen Oligarchen spielen.

Grytsenko mit Unterstützern

Grytsenko mit Unterstützern

© Khrystyna Bondarenko

Grytsenkos Chance besteht darin, die gesamte liberale und demokratische Opposition hinter sich zu vereinen und der einzige Kandidat derer zu sein, die weder Timoschenko noch Poroschenko wollen, die Macht der Oligarchen satt haben und erst recht nicht zurück zu einer prorussischen Politik wollen. Er ist sich dessen bewusst und konzentriert sich daher seit Monaten darauf, andere Kräfte des demokratischen Lagers – seien es Parteien, Verbände oder Einzelpersonen – von einem Zusammengehen zu überzeugen. Mehrere Kleinstparteien unterstützen ihn in der Präsidentschaftswahlkampagne: der ehemalige Abgeordnete Mykola Kateryntschuk mit seiner „Europäischen Partei“, der Abgeordnete Viktor Tschumak mit seiner jüngst gegründeten Partei „Bürgerliche Bewegung ‚Die Welle‘ “ und der bekannte Politiker Mykola Tomenko, Ex-Vizepremier und Ex-Abgeordneter, mit seiner Partei „Bürgerliche Bewegung ‚Heimatland‘ “. Jehor Firsow, ebenfalls Ex-Parlamentarier, hatte sich bereits im Sommer 2018 mit seiner Partei „Alternative“ der „Bürgerposition“ angeschlossen.

Auf dem „Forum der demokratischen Kräfte“ am 11. Januar in Kiew stellte Grytsenko sie, sein Wahlkampfteam sowie weitere Unterstützer - wie etwa Vertreter eines Verbands der Binnenvertriebenen und eines Veteranenverbands - vor. Anwesend waren auch mehrere reformorientierte Parlamentsabgeordnete, wie die ehemaligen Journalisten und Maidan-Aktivisten Switlana Salischtschuk, Serhij Leschtschenko und Mustafa Najem, die sich bis dato mit einer Wahlempfehlung noch zurückgehalten hatten. Salischtschuk ist inzwischen offizielle Beraterin Grytsenkos für internationale Angelegenheiten. Najem, einer der Initiatoren des Maidan im November 2013, appellierte eindringlich an alle demokratischen Kandidaten, sich zu vereinen und dadurch einen echten Politikwechsel zu ermöglichen. Er richtete seine Worte namentlich an den nicht persönlich anwesenden Andrij Sadowy, Bürgermeister in Lwiw und selbst bereits als Präsidentschaftskandidat registriert. In Umfragen liegt er bei 2,4 Prozent und gilt damit als chancenlos. Inwieweit die Gespräche zwischen Grytsenko und ihm noch in ein gemeinsames Vorgehen münden werden, ist mehr als ungewiss. Offenbar möchte Sadowy seine Kandidatur eher nutzen, um seine in Umfragen derzeit nicht gut dastehende Partei „Selbsthilfe“ für die Parlamentswahlen im Herbst zu positionieren.

In seiner eigenen Rede auf dem „Forum demokratischer Kräfte“ sprach Grytsenko nur eine einzige Partei namentlich an, die zweite Partnerpartei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, „Kraft der Menschen“. Deren Vorsitzender Oleksandr Solontai war ebenfalls anwesend, machte aber von der Möglichkeit zu reden keinen Gebrauch. Wiewohl auf europäischer Ebene ebenfalls zur liberalen Familie gehörig, hat „Kraft der Menschen“ sich bisher nicht entschlossen, Grytsenkos Kandidatur zu unterstützen. Wenngleich in Umfragen kaum messbar, ist sie die Partei, die das Erbe des Maidan vielleicht am besten verkörpert, und ihre Mitglieder versuchen in besonderem Maße, eine echte demokratische Partei von unten aufzubauen. Dazu gehört auch, dass eine von oben verordnete „Wahlempfehlung“ an die Mitglieder undenkbar ist. Davon abgesehen spricht Grytsenko tendenziell eher ein konservativeres Publikum an als die von zivilgesellschaftlichen Aktivisten geprägte „Kraft der Menschen“. Vielmehr hat die Partei sich im Herbst vergangenen Jahres vorgenommen, in internen Vorwahlen, so genannten „Primaries“, einen eigenen Kandidaten basisdemokratisch zu bestimmen. Die Möglichkeit der Abstimmung endete für die Mitglieder kurz vor dem jährlichen Parteitag am 10. Januar. Der Kandidat mit den meisten Stimmen, Dmitro Gnap, wurde nach lebhaften Diskussionen zum offiziellen Präsidentschaftskandidaten von „Kraft der Menschen“ gewählt. Gnap ist als investigativer Journalist vor allem zum Thema Korruption bekannt und hat im Sommer 2018 angekündigt, den Journalismus zu verlassen und sich an der Parlamentswahlen 2019 sowie an den Vorwahlen der „Kraft der Menschen“ zu beteiligen.

Mithin setzten sich die Kräfte in der Partei durch, die das Einüben demokratischer Regeln und den nachhaltigen Aufbau einer echten liberalen Partei als oberstes Ziel verfolgen, über jene, die pragmatisch mit der Unterstützung eines aussichtsreichen demokratischen Kandidaten – Grytsenko – die Chance eines echten Wandels an der Staatsspitze hätten erhöhen wollen.  

Immerhin fasste der Parteitag einen weiteren Beschluss: Sollten sich die Kandidaten aus dem demokratischen Lager, namentlich Grytsenko, Sadowy und gegebenenfalls Wakartschuk, auf ein 

Zusammengehen einigen, würde Gnap seine Kandidatur zurückziehen und die „Kraft der Menschen“ diesen Kandidaten ebenfalls unterstützen. Der Rückzug einer Kandidatur ist formal bis zum 21. Februar möglich.

Dass „Kraft der Menschen“ ohnehin über eine Alternative zum eigenen Kandidaten nachdenken muss, ist aus einem viel nüchterneren Grund nicht unwahrscheinlich: Spätestens am 3. Februar muss Dmitro Gnap sich offiziell als Präsidentschaftskandidat registrieren und dafür 2,5 Mio. Grywnia (etwa 78.500 Euro) aufbringen. Die Crowd-Funding-Kampagne der „Kraft der Menschen“ hat bis zu ihrem fünften Tag insgesamt 240.118 Grywnia erbracht, es verbleiben noch acht Tage.

Für alle Bemühungen des liberalen Lagers in dieser Wahl gilt, dass der Verzicht auf die verbreiteten unsauberen Mittel der Wählerbeeinflussung wie auch der Mangel an finanziellen, medialen und administrativen Ressourcen schwierige und unfaire Ausgangsbedingungen schafft. Was die Akteure der beiden Parteien und ihre Unterstützer dennoch antreibt, ist das Wissen, dass sie das richtige tun für ihr Land, dem es an echten, wertebasierten Parteien und einer fairen, am Gemeinwohl orientierten Politik bitter mangelt. Die Früchte ihrer jetzigen Anstrengungen könnten bei den Parlamentswahlen im Herbst und den Kommunalwahlen 2020 zu ernten sein.

Für Medienanfragen kontaktieren Sie unsere Expertin der Stiftung für die Freiheit:

Projektleiterin Türkei
Telefon: +90 212 219 72 53