EN

Syrien
Machtwechsel in Syrien

Interview mit Bassam Al-Kuwatli, Präsident der „Syrischen Liberalen Partei - Ahrar“
Syrien

Menschen feiern den Machtwechsel in Syrien

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Emrah Gurel

Die atemberaubende Geschwindigkeit und die Echtzeitbilder, die den Zusammenbruch des Assad-Regimes dokumentieren, haben in den letzten Nächten Millionen von Menschen an ihre Smartphones und Bildschirme gefesselt oder mit Angehörigen und Freunden telefonierend um den Schlaf gebracht.

Überall auf der Welt, wo Syrer in den vergangenen Jahrzehnten zu Millionen Zuflucht gesucht oder eine neue Heimat gefunden haben, und überall dort, wo Menschen in einer geographischen, politischen oder kulturellen Nähe zu Syrien stehen, herrschen widersprüchliche Emotionen – von hoffnungsvoller Euphorie bis zu Angst.

Unter ihnen ist Bassam Al-Kuwatli, ein Weltbürger mit syrischen Wurzeln und Vorsitzender der „Syrischen Liberalen Partei - Ahrar“, die erst letzte Woche bei der Generalversammlung der „Liberal International“ in Chile als Vollmitglied in den internationalen Dachverband liberaler Parteien aufgenommen wurde.

Ralf Erbel, Referatsleiter MENA und Subsahara-Afrika der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF), hat mit ihm gesprochen.

An diesem Berliner Sonntagnachmittag rufe ich Herrn Al-Kuwatli auf seiner kanadischen Telefonnummer an. Ich vermutete ihn an der Westküste Kanadas zur dortigen Morgenzeit, erreichte ihn jedoch zu einer abendlichen Ortszeit in den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Ralf Erbel: Guten Abend, Bassam! Kein Regime hält ewig. Ihr Großonkel Shukri al-Quwatli war in den 1940er Jahren der erste Präsident des unabhängigen Syriens und wurde nach dem Putsch der Baath-Partei 1963 ins Exil gezwungen. Aber ehrlich, haben Sie das Ende des Assad-Regimes vor zwei Wochen vorausgesehen? Wie erklären Sie als liberaler syrischer Aktivist die Entwicklungen der letzten Tage?

Bassam Al-Kuwatli: Guten Abend! Alle Syrer, die für Freiheit und Demokratie arbeiten, haben das Ende Assads irgendwann erwartet, aber nicht so bald und so schnell. Das Assad-Regime war so tief verwurzelt, dass wir alle wussten, dass es nicht einfach sein würde, es zu stürzen. Gleichzeitig war uns klar, dass das Regime Syrien durch Angst beherrschte, was keine dauerhaft tragfähige Situation sein konnte. Der plötzliche Zusammenbruch des Assad-Regimes kam für alle Syrer überraschend, und ich bin der Auffassung, dass diese Feststellung sogar für die Milizen gilt, die gegen ihn kämpften und sein Regie schließlich besiegten.

Die Dynamik, die zum Sturz Assads führte, begann vor einiger Zeit, als Russland direkte Gespräche zwischen Assad und Erdoğan vorschlug. Erdoğan machte wiederholt Angebote für ein Treffen mit Assad, doch Assad lehnte diese unter iranischem Druck ab. Dies werteten sowohl Putin als auch Erdoğan als Beleidigung. Infolgedessen ignorierten die Türkei und Russland stillschweigend die Angriffe von „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS) auf Assads Streitkräfte, um ihn für seine Haltung zu bestrafen.

Niemand dürfte jedoch damit gerechnet haben, dass der Mangel an Unterstützung durch den Iran und die Hisbollahbeide geschwächt durch israelische Angriffe – die strukturellen Schwächen der syrischen Armee derart offenlegen würde, dass diese den Angriffen nicht standhielt. Die „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS) nutzte die Gelegenheit und drang bis in die Stadt Hama im Zentrum Syriens vor. Russland, das keine Bodentruppen vor Ort hatte, konnte Assad nicht retten. Die Situation verschärfte sich für Assad, als die sogenannte Südfront die Gelegenheit nutzte und Richtung Damaskus vorrückte. Der Rest ist Geschichte.

Für die Syrer bedeutet dies die Befreiung von 61 Jahren Herrschaft durch die Baath-Partei und das Ende des Einflusses zweier Hauptakteure in Syrien: dem Iran und Russland. Andere Akteure sind weiterhin involviert, und es wird noch einige Zeit dauern, bis Syrien vollständig stabilisiert und wirklich frei ist.

Ralf Erbel: Säkular, progressiv und liberal eingestellte Syrer betrachten die jüngsten Entwicklungen oft mit großer Ambivalenz, hin- und hergerissen zwischen Freude über das Ende der Tyrannei der Assad-Dynastie und der Angst vor den Absichten der siegreichen, von der Türkei unterstützten Islamisten von „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS). Welche Perspektiven sehen Sie für liberales Gedankengut in Syrien?

Bassam Al-Kuwatli: Liberale Syrer sind froh, dass das Haupthemmnis für Demokratie und Fortschritt beseitigt ist, insbesondere, da religiöser Radikalismus in Syrien ursprünglich als Reaktion auf die Diktatur Assads entstand. Später wurde er sogar von Assad selbst gefördert, um die USA im Irak zu bekämpfen und die syrische Revolution zu untergraben.

Die Zukunft wird nicht einfach sein, denn der Übergang zur Demokratie verläuft nie linear und dauert oft mehrere Generationen. Es gibt jedoch einige beruhigende Faktoren:

  1. Die HTS-Führung zeigt einigen Pragmatismus, um sich Zugang zur Macht zu sichern.
  2. Die „Südfront“, die Damaskus einnahm, ist keine fundamentalistisch-religiöse Gruppe und schafft ein gewisses Gleichgewicht in der Hauptstadt.
  3. Die Syrer sind müde von ideologischer Politik und wünschen sich eine Regierung, die sich auf die Bereitstellung von öffentlichen Dienstleistungen und Sicherheit konzentriert.

Liberale müssen sich darauf konzentrieren, die unmittelbaren Probleme der Menschen zu lösen, anstatt nur den Status quo zu kritisieren. Die Menschen müssen sehen, dass Liberale nicht nur schöne Sonntagsreden halten, sondern handeln können!

Ralf Erbel: Syrien und die Levante stehen an der Schwelle zu einem neuen Kapitel ihrer Geschichte. Was kann Europa, und insbesondere Deutschland, tun, um das syrische Volk auf seinem Weg zu einer besseren Zukunft in Freiheit und Wohlstand zu unterstützen?

Bassam Al-Kuwatli: Syrien ist nicht von der Region isoliert. Europa muss daran arbeiten, einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina und später zwischen Israel und Syrien zu schaffen, um Spannungen in der Region abzubauen und eine weitere Ursache für Radikalisierung zu beseitigen.

Ebenso ist es wichtig, den Status syrischer Liberaler in der internationalen Gemeinschaft zu stärken, ihnen Sichtbarkeit zu verschaffen und direkte finanzielle Unterstützung zu bieten, damit sie ihre Botschaften und Kommunikationskanäle ausbauen können. Außerdem sollten sie unterstützt werden, um Jugend und Frauen eine liberale Bildung zu ermöglichen.

 

Bassam Al-Kuwatli, syrisch-kanadischer politischer Aktivist. Bassam Al-Kuwatli war Mitglied der syrischen Gewaltlosigkeitsbewegung gegen die Unterdrückung durch das syrische Regime. Er leitete die Abteilung für Friedenskonsolidierung innerhalb der Assistance Coordination Unit und ist Gründer und derzeitiger Vorsitzender der Syrischen Liberalen Partei im Exil. Er hat einen Master of Conflict Management der Royal Roads University in Victoria, Kanada. Derzeit leitet er eine Organisation, die in den Bereichen Überwachung und Evaluierung, Bewertungen und Meinungsumfragen in Südwestasien, dem Balkan und der Ukraine tätig ist.

Bei Medienanfragen kontaktieren Sie bitte:

Florian von Hennet
Florian von Hennet
Leiter Kommunikation, Pressesprecher
Telefon: + 4915202360119