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Russland
Nach Polizeigewalt: Moskau unter Schock

Russland-Experte schätzt die Lage nach den Demonstrationen ein

Dass Präsident Putin während der Demonstrationen in Moskau am Wochenende in einem U-Boot in der Ostsee auf Tauchstation ging, wurde von vielen Beobachtern als Sinnbild der Unfähigkeit zum Dialog der Mächtigen in Russland mit Opposition und Bürgergesellschaft interpretiert.

Noch vor einem Monat hatte Putin den Liberalismus für „obsolet“ erklärt, war aber auf Nachfrage zurückgerudert, sprach ihm dann doch eine Existenzberechtigung zu, meinte ja „kein Fan“ davon zu sein, „alle zu verhaften“ und verlangte am Ende defensiv, dass der Liberalismus nur nicht das Recht hätte, „der absolut dominierende Faktor“zu sein. Russische Beobachter sahen in diesen Sätzen weniger reaktionäre Ideologie als die Angst vor dem Dogma von Freiheit und Menschenrechten bei den eigenen Bürgern.

Seit der mächtige Moskauer Bürgermeister und Putin-Vertraute Sergej Sobjanin sich im Jahr 2013 dafür eingesetzt hatte, den Oppositionspolitiker Alexej Nawalni als Gegenkandidaten zuzulassen, hat sich viel verändert. Die Ratings von Wladimir Putinsind nach der Krim-Euphorie und nach über vier Jahren sinkender Reallöhne wieder auf dem gleichen Stand wie 2013, knapp über 60 Prozent. Aber nach den erschreckend hohen 27 Prozent, die Nawalni 2013 erzielte und nach vielen neuen repressiven Gesetzesänderungen, ist die Angst vor der Unzufriedenheit der Bevölkerung weiter gestiegen.

Das erklärt, weshalb so viele der überwiegend liberalen Oppositionskandidaten schon im Voraus unter fadenscheinigen Gründen nicht zur Moskauer Kommunalwahl im September zugelassen wurden. Eine neu eingeführte Hürde für die Zulassung unabhängiger Kandidaten verlangte das Sammeln vieler Tausend Unterschriften, die bei 57 Kandidaten für ungültig erklärt worden waren. Die Oppositionskandidaten riefen als Antwort zum Protest gegen den Ausschluss von der Kommunalwahl auf.

Prominente Kandidaten wie Ilja Jaschin, enger Mitstreiter des Oppositionsführers Boris Nemzow aus der liberalen Partei der Volksfreiheit (Parnas), der ehemalige Dumaabgeordnete Dmitry Gudkow, Vorsitzender der liberalen Partei Wandel (Peremen) oder die unabhängige Kandidatin Julia Galjamina, erlebten noch am Vorabend Hausdurchsuchungen in ihren Privatwohnungen und wurden schon vor Beginn des Protests am Wochenende verhaftet. Die nach Behördenangaben 3500 Bürger, die trotz Demonstrationsverbot und öffentlicher Drohung der Stadtregierung am Wochenende auf die Tverskaya- Straße und quer durchs Zentrum von Moskau strömten, zeigten Geschlossenheit und Mut und ernteten dafür Härte und Gewalt.

Soziologe sieht folgenschwere Fehleinschätzung der Mächtigen

Nach den unabhängigen Beobachtern von OVD-Info wurden 1373 Bürger gewaltsam verhaftet, darunter mindestens 18 Journalisten und nach Angaben der Agentur Baza wurden dabei 77 Demonstranten zusammengeschlagen. Die liberale Jabloko-Partei urteilte über die gewaltsame Reaktion der Behörden mit den Worten: „Die Führung des Landes, der Moskauer Stadtregierung und der Sicherheitskräfte hat wieder einmal ihre Unfähigkeit gezeigt, mit der Gesellschaft einen normalen Dialog zu führen.“ Der unabhängige Soziologe Gregori Judin kritisierte die Reaktion der Behörden als schwere Fehleinschätzung, weil Härte den Protest ausgeweitet und der Bürgermeister damit seine eigene Legitimität weiter untergraben hätte.

Demo Russland

Die Polizei nimmt einen Demonstranten fest.

© picture alliance / AA

Nicht nur der größte Teil der Opposition, der Unternehmer, der Bürgerrechtler oder Hipster, sondern selbst der Ordnungsrahmen der russischen Verfassung priorisiert ein liberales Mantra. Wie die Menschenwürde im Deutschen Grundgesetz, steht als „höchster Wert“ am Anfang der russischen Verfassung „der Mensch, seine Rechte und Freiheiten“.

Weitere Macht- und Gewaltdemonstrationen könnten viele zu Systemfeinden machen

Das Wochenende zeigte auch, wie unterhöhlt diese Verfassungsrechte durch Behördenmacht, Repression und Gewalt bereits sind. Es ist fast ein Wunder, dass sich so viele Oppositionspolitiker wie Julia Galjamina immer noch für eine Politik der kleinen Schritte, für „Kommunalpolitik anstatt Schimpfen“ stark machen. Sie hatte aber wegen des ungerechten Ausschlusses an der Wahlteilnahme bereits angekündigt: „Ich bin sicher, wir werden uns nicht aufhalten lassen. Ich weiß, wir werden gehen und dann immer und immer wiederkommen.“

Man kann ihr und den anderen Oppositionskandidaten nur wünschen, dass die Herrschenden in Moskau ihre Angst vor den eigenen Bürgern im Dialog zu kanalisieren lernen. Denn die am Wochenende gezeigte Macht- und Gewaltdemonstration wird die Fronten nur verhärten und freie Bürger wie Politiker der kleinen Schritte langfristig zu Systemfeinden machen.

 

Dieser Gastbeitrag erschien erstmals bei Focus Online am Montag, 29. Juli 2019.

Julius von Freytag-Loringhoven leitet seit 2012 das Moskauer Büro und die Arbeit der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit in Russland und Zentralasien.