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Ungarn
Orbáns kleine Orwellsche Welt

Viktor Orbán weitet Massenüberwachung aus
Viktor Orban Ministerpräsident Ungarns

Viktor Orban Ministerpräsident Ungarns

© picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel

Der illiberale Staat Viktor Orbáns verschafft sich fast unbemerkt Zugang zur völligen Kontrolle von Informationen über seine Bürger. Künftig sollen die Daten sämtlicher Überwachungskameras im Land gespeichert und systematisch ausgewertet werden. Erfasst werden sollen außerdem die Daten ausländischer Gäste.

Neue Systeme der Massenüberwachung 

Die ungarische Nationalversammlung hat für Dezember 2018 eine Beschlussfassung über die Einrichtung einer neuen Datenbank anberaumt. Geht es nach dem Willen der Regierungspartei Fidesz, sollen die Daten zehntausender Kameras im öffentlichen Raum beim Innenministerium gesammelt werden. Diese sollen dann der ungarischen Polizei, Gerichten, Staatsanwälten und der Nationalen Behörde für Datenschutz und Informationsfreiheit (NAIH) zugänglich gemacht werden, um Verbrechen zu verhindern oder leichter zu verfolgen. Dabei können die Behörden wahrscheinlich auch auf Gesichtserkennungsprogramme zurückgreifen. Ähnliche Systeme gibt es im Zuge der Terrorismusbekämpfung bereits in Ländern wie Großbritannien oder Belgien.

Die Erhebung von Massendaten und die Identifizierung aller Personen ohne laufende Gerichtsverfahren würden dem verfassungsmäßigen Schutz personenbezogener Daten zuwiderlaufen. Sie würde es den ungarischen Behörden ermöglichen, ein nahezu automatisiertes "geheimes Sichtkontrollsystem" im gesamten Land zu betreiben. Die verfassungs- und bürgerrechtlichen Bedenken zu diesem Vorgehen werden sowohl von der ungarischen Bürgerrechtsunion als auch von Attila Péterfalvi, dem Chef der NAIH, bekräftigt.  Mit einem weiteren von der Nationalversammlung eingeführten Gesetz würde zusätzlich ein Nationales Touristendatenzentrum (NTAK) geschaffen. Beherbergungsbetriebe mit mehr als acht Zimmern müssten dann Namen, Geburtsdaten und Daten der Reisedokumente ihrer Gäste an die Behörden weitergeben. Viele Gäste werden sich also ab Juli 2019 automatisch in der NTAK-Datenbank wiederfinden. Obwohl die von den ungarischen Behörden abgerufenen Daten anonymisiert werden sollen, geben frühere Maßnahmen gegen NGOs und die Neigung der ungarischen Regierung zur Überwachung der Zivilgesellschaft wenig Anlass zu Vertrauen.

Viktor Orbán setzt mit diesen neuen Maßnahmen die Umsetzung einer umfassenden Überwachungsagenda zu Lasten der Zivilgesellschaft und der politischen Opposition fort. Über ein neu geschaffenes Geheimdienstzentrum kann der Premierminister seit 2018 auch unmittelbar Kontrolle über die Daten ungarischer Bürger ausüben. Laut eines kürzlich abgeschlossenen Vertrags, den das Ermittlungsportal Átlátszó enthüllte, beschäftigt Rogán Antal, der Leiter des Kabinettsbüros des Ministerpräsidenten, der die neue Datenbank für Touristen betreuen wird, zusätzlich ein Unternehmen mit der Überwachung von Online-Nachrichtenmedien, Blogs, YouTube, Twitter und Facebook. Auf diese Weise möchte Orban offenbar gegen vermeintliche  „Fake News“ kämpfen, die durch die „mit George Soros verbundenen Medien“ angeblich verbreitet werden. George Soros ist ein milliardenschwerer Philanthrop, der mit seiner Stiftung „Open Society Foundation“ unter weltweit zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammenarbeitet.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte bereits 2016 geurteilt, dass die Befugnisse des ungarischen Zentrums für die Terrorismusbekämpfung (TEK) viel zu weit reichten. Die Regierung  musste daraufhin mehrere Gesetze anpassen. Besonders betroffen waren damals Journalisten, Abgeordnete und Geistliche, deren Daten allein auf Grundlage einer Anordnung eines Ministeriums und ohne richterlichen Beschluss erhoben und gespeichert wurden. Darüber hinaus verstärkte die ungarische Regierung ihre Informationskontrolle über die ungarische Gesellschaft. Sie schuf ein hoch zentralisiertes Medienkonglomerat mit mehr als 500 Medien, das sich im Besitz von regierungsfreundlichen Oligarchen befindet. Im Juni 2018 erließ die Regierung ein Gesetz, welches die Transparenz von Organisationen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, erhöhen sollte, - das in Wahrheit aber das Ziel hatte, unabhängige Organisationen zu diskreditieren. Im Kampf gegen ihre wahren oder wahrgenommenen Feinde drohten Regierungsbeamte der ungarischen Zivilgesellschaft nicht nur mit Überwachung,  sondern starteten tatsächlich illegale Überwachungsaktionen gegen sie, um die regierende Fidesz/KDNP-Koalition während des Wahlkampfes mit politischer Munition zu versorgen.

Gefahr für Ungarns Sicherheit durch Cyberangriffe Russlands

Die sich nun abzeichnende Art der Erhebung und Speicherung sensibler personenbezogener Daten betrifft auch die äußere Sicherheit Ungarns. Die ungarische Regierung leugnet die Bedrohung durch russische Fehlinformationen oder „hybrider Kriegsführung“ und sieht deshalb auch keine Notwendigkeit für Gegenmaßnahmen. Dadurch sind die neuen Datenbanken besonders anfällig für Cyberangriffe Russlands. Diese Bedrohung ist umso bedeutsamer, als sich das ungarische Innenministerium unlängst weigerte, zu untersuchen, wie die russische Geheimdienstbehörde GRU jahrelang eine ungarische paramilitärische Organisation infiltrieren und ausbilden konnte

Im Jahr 2017 profitierten Kreml-Mitarbeiter bereits von dieser ungarischen Informationslücke. Die ungarische Regierung betrieb im Zuge der Volksabstimmung „Stop Brussels“ im Jahr 2017 eine offizielle Website, die das Webanalyseprogramm „Yandex Metrika“ der russischen Firma Yandex nutzte. Diese wird oft als „das russische Google“ bezeichnet. Infolgedessen wurden der vollständige Name, das Alter und die E-Mail-Adressen der ungarischen Besucher an russische Server übermittelt, bis ungarische Datenschutzorganisationen die Behörden über den Vorfall informierten.

Letztendlich ermöglichen es die neuen Massenüberwachungs- und Gesichtserkennungsinstrumente der illiberalen ungarischen Regierung – und damit auch dem Kreml –, Profile und Bewegungsmuster von Personen zu erstellen. Viktor Orbán festigt seine Macht in Ungarn weiter, indem er seine Bevölkerung massiv überwacht.

Lóránt Győri ist Soziologe und Politologe mit einem Master in Sozialwissenschaften von der Eötvös Loránd Universität, Budapest, wo er derzeit als geopolitischer Analytiker für den Think-Tank Political Capital zu Themen wie russische Soft Power, Desinformation und Populismus in Europa arbeitet.