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Weltalphabetisierungstag
Schrift als Freiheitsinstrument!

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© picture alliance/dpa | Annette Riedl

Schrift und Schriftzeichen begleiten uns überall: Beim Einkauf, an Straßenschildern, im öffentlichen Raum wie im Haushalt. Die komplexe Kodierung von Sprache ist so vielschichtig, dass ganze Bibliotheken mit Abhandlungen über Entstehungen, Sinn und Zweck und der Frage nach Relevanz gefüllt werden könnten. Schrift und die Vermittlung von Lese- und Schreibfähigkeiten sind aber vor allem Freiheitsinstrumente.

Sie ermöglichen dem Einzelnen Informationen und Wissen zu speichern, weiterzutragen und aufzunehmen. Diese Gedanken und das Wissen können wiederum Veränderung und Bereicherung erfahren. Ein unendlicher Prozess der steten Verbesserung, des Fortschritts kann angestoßen werden. Dabei ist Schrift für sich genommen nicht viel. Die deutsche Philosoph Christian Grave schrieb: „Die Schrift ist ein toter Buchstabe, den nur die Einbildungskraft und der Verstand des Lesens beleben kann.“ Diese Einbildungskraft und der Verstand sind es, die dem Schrifttum Leben einhauchen und es so wertvoll für unsere Gesellschaft machen.

Wann und wo genau die ältesten schriftlichen Zeugnisse der Menschheit entstanden sein mögen, ist in der Forschung hoch umstritten. Verschieden Fundorte von Südosteuropa, über Mesopotamien bis nach China weisen aber darauf hin, dass jeweils an unterschiedlichen Orten in voneinander unabhängigen Kontexten Schriftzeichen verwendet wurden. Die Entstehungszeiten reichen vom 7. bis zum 6. Jahrtausend vor Christi Geburt. Über die Sumerer, einem Volksstamm aus Mesopotamien des 3. Jahrtausend v. Chr., ist bekannt, dass sie über eine ausgefeilte Buchführung verfügten. Landwirtschaftliche Produkte konnten somit erfasst, Verwaltung strukturiert werden.

Jeder Schrift, wo auch immer sie entstand, ist dabei eine Form der Kodierung eigen. Es setzt ein recht komplexes System voraus: Sowohl Sender als auch Empfänger müssen es entschlüsseln können. Die sonst bei der mündlichen Übertragung von Wissen notwendigen Faktoren des gleichen Raumes und der Gleichzeitigkeit werden jedoch ausgehebelt – und der Inhalt kann immer wieder rezipiert werden.

Der Wunsch, Wissen zu tradieren, es also an die folgenden Generationen weiterzugeben, ist dem Menschen mitgegeben. Gleichwohl gehen Gesellschaften bis heute unterschiedliche Wege. Etliche Gesellschaften tragen ihr Wissen vor allem direkt mündlich weiter. Diese Form der Wissensvermittlung ist zweifelsohne die unmittelbarste. Und dennoch sind die Faktoren Raum, Zeit und etwaige Verfälschungen durch unzulängliche Wiedergabe die größten Hindernisse um Wissen weiterzugeben.

Die verwendeten Schriftzeichen und –formen haben eine schier unglaubliche Vielfalt. Von der Keilschrift und den Hieroglyphen über die Knotenschrift der Inka (Quipu) bis hin zu dem lateinischen Alphabet. Allen ist gleich, dass sie Informationen in sich bergen, die es aus Sicht des Verfassers wert waren, eine gewisse Zeit zu überdauern.

Man darf die Verschriftlichung also durchaus als Wissensbooster ansehen. Aus euro-zentristischer Sichtweise wurde mit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern (1450 durch Johannes Gutenberg) ein neuer Meilenstein erreicht. Schriftstücke mussten fortan nicht mehr aufwendig in Schreibstuben oder mit gegossenen Druckplatten gefertigt werden. Sie waren auch nicht mehr nur einigen wenigen vorbehalten, sondern wurden für breitere Bevölkerungsschichten zugänglich. Flugblätter, Pamphlete und schließlich Zeitungen regten eigenes Denken an, hinterfragten Strukturen, bedingten Recherchen und mehrten letztlich die individuelle Freiheit.

Doch nicht nur die geistige Freiheit wurde durch das Schrifttum beflügelt. (Volks-)wirtschaftliche Wachstumschancen durch die stete Wissensmehrung, durch den schnellen Transfer von Wissen sind enorm. Es ist jedoch zu bedenken, dass Alphabetisierung allein lediglich die Grundlage und Voraussetzung, aber für sich genommen noch nicht die Ursache für Teilhabe und wirtschaftlichen Aufschwung ist.

Und obwohl global gesehen die Neuerungen und Innovationen rund um Schrift und Schriftkenntnisse in den letzten 500 Jahren einen nie dagewesenen Fortschritt ermöglicht haben, sind noch immer Unzulänglichkeiten zu erkennen: Nach aktuelle Zahlen ist davon auszugehen, dass weltweit etwa 800 Millionen Menschen nicht richtig lesen und schreiben können. Dabei haben Frauen und Mädchen an dieser erdrückenden Zahl einen deutlich höheren Anteil. Alphabetisierung ist daher global gesehen auch eine elementare Frage der Gleichberechtigung! Das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Personen mit unzureichenden Lese- und Schreibkenntnissen ist etwa 2/3 zu 1/3.

In Deutschland können etwa 6,2 Millionen Menschen nicht richtig lesen und schreiben. Hierzulande liegt wiederum der Anteil von Männern etwas höher - bei etwa 60 %. Die Ursachen für Analphabetismus sind vielschichtig. Unzureichende schulische Förderung, schwierigste soziale Voraussetzungen, gravierende Einschnitte in der Biografie, fehlende körperliche oder geistige Voraussetzungen sind nur einige der möglichen Ursachen. Zudem wären bei eingehenderer Analyse die Unterschiede in der Lese- und Schreibfähigkeit zwingend genauer zu differenzieren. Für den Analphabetismus gibt es überdies mehrere Definitionen, was eine genaue Erhebung von Zahlen nicht einfach macht. Betroffene Menschen haben zudem bisweilen äußerst ausgefeilte Strategien entwickelt, damit dieses gesellschaftliche „Stigma“ nicht sichtbar wird. Oftmals bleiben Defizite durch Scham und Vermeidungsstrategien daher unerkannt.

Die hohen Zahlen zeigen, dass gesamtgesellschaftlich und bildungspolitisch trotz vieler Bemühungen noch deutliches Potenzial zur Verbesserung existiert. Gesellschaftlich muss das vermeintliche Tabu weiter aufgebrochen. Politisch sollten Schulungsangebote ausgebaut werden. Das Programm AlphaDekade, das vom BMBF seit 2016 mit 160 Millionen Euro gefördert wurde, läuft noch bis 2026. Ein Anschlussprogramm wäre empfehlenswert. Denn die Maßnahmen der Pandemie-Bekämpfung haben auch in Deutschland zu einer signifikanten Verschlechterung der Lese- und Schreibfertigkeiten bei Schülerinnen und Schülern geführt.

Zur Kompensation dieser Defizite wurde u.a. das Bundesprogramm „Aufholen nach Corona“ aufgelegt. Doch dies scheint die Probleme noch nicht behoben zu haben. Ausweis hierfür ist auch die Diskussion in Niedersachsen um das Auslaufen der Verträge von mehr als 2400 Corona-Helfer an niedersächsischen Schulen. Es zeigt sich einmal mehr, dass die Arbeit von Lesehilfe-Vereinen aktiver Unterstützung bedarf. Der Weltvorlesetag (15. November) ist ein wichtiges Datum, um die Bedeutung von Büchern und Schrift ins Bewusstsein zu rufen.

Das Vorlesen ist für Kinder der erste Zugang zur Schrift und wird durch eine angenehme Atmosphäre, bspw. abends vor dem Schlafengehen, positiv konnotiert. In Zeiten der digitalen Transformation ist das sichere Erlernen dieser grundlegenden Techniken essenziell. Lesen, Schreiben und Rechnen bedürfen der Priorisierung in den Lehrplänen der Grundschulen. Die Zahlen der Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) zeigen, dass gut ein Viertel der Schülerinne und Schüler am Ende der Grundschule nicht richtig lesen und schreiben können. Eine dramatische Zahl, die gesellschaftlich und politisch so nicht akzeptiert werden darf.

Es ist schwer Vorhersagen zu treffen, welche Kompetenzen bei den vielen schnellen Veränderungen auch in Zukunft von Schülerinnen und Schülern gebraucht werden. Gute Lese- und Schreibfähigkeiten gehören in jedem Fall mit dazu – allein durch die Schulung der von Grave beschriebenen „Einbildungskraft“ und des „Verstandes“. Sie dient zur Mehrung der persönlichen und gesellschaftlichen Freiheit sowie zum wirtschaftlichen Erfolg. Ohne Alphabetisierung und die Ermöglichung einer Grundbildung wird auch global keine nachhaltige Armutsbekämpfung möglich sein. Das Eintreten für individuelle Rechte, das konkrete Durchsetzen von Recht, gesellschaftliche und politische Partizipation sowie wirtschaftlicher Erfolg werden nur dann möglich sein, wenn Lese- und Schreibfähigkeiten als Freiheitsinstrumente erlernt wurden. Frei nach dem englischen Philosophen Jeremy Bentham muss das Ziel der Alphabetisierung die größtmögliche Freiheit der größtmöglichen Zahl sein!