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Türkei
Startschuss für die heiße Phase

Vier Wochen vor zu den richtungsweisenden Kommunalwahlen in der Türkei
Erdogan bei seiner Wahlkampftour in Bartin

Erdogan bei seiner Wahlkampftour in Bartin

© picture alliance / AA

Bis zu den richtungsweisenden Kommunalwahlen am 31. März sind es nur noch knapp vier Wochen. Doch unter den Spitzenpolitikern, die sich schon „warmgelaufen“ haben, sind lediglich Innenminister Süleyman Soylu und Präsident Erdoğan zu finden, die nahezu täglich auf öffentlichen Plätzen auftreten. Oppositionsführer Kılıçdaroğlu dagegen scheint den Startschuss für die heiße Phase des Wahlkampfes noch nicht mitbekommen zu haben. Während Erdoğan seit Wochen von Ort zu Ort tingelt und auf den Plätzen der Republik um Stimmen wirbt, verhält sich Kemal Kılıçdaroğlu so gemütlich und entspannt wie der Busfahrer einer Rentner-Kaffeefahrt.

Auf seinen Auftritten versucht Erdoğan, die Differenzen zwischen seiner AKP und der mit ihr in der „Volksallianz“ koalierenden rechts-nationalistischen MHP zu glätten. Zuletzt hatte es in der westanatolischen Provinzhauptstadt Karabük eine offen ausgetragene Wortschlacht zwischen den Kandidaten beider Parteien gegeben. „Wir haben immer noch nicht den gewünschten Zusammenhalt zwischen den Lokalorganisationen der Parteien erreichen können“, konzedierte Erdoğan während eines Auftritts vor Anhängern. Übersetzt heißt das so viel wie: Die Lage ist ernst.

Innenminister Soylu dagegen, der dafür bekannt ist so zu sprechen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, tritt vermehrt in Ankara auf: Er macht Stimmung gegen die CHP und die mit ihr koalierende Iyi-Partei, die er wiederum beschuldigt, mit der kurdischen Terrororganisation PKK und der islamischen Gülen-Bewegung gemeinsame Sache zu machen. Normalerweise nehmen Minister nicht aktiv an Kommunalwahlkampagnen teil. Gerüchten zufolge tritt Soylu auf, um dem eher schwachen OBKandidaten der AKP für Ankara, Mehmet Özhaseki, „unter die Arme zu greifen“. Umfragen zufolge soll Özhaseki deutlich hinter seinem Rivalen Mansur Yavaş, dem gemeinsamen Kandidaten der CHP und der Iyi-Partei, liegen. Die heiße Wahlkampfphase soll für das Oppositionsbündnis hingegen erst Ende Februar/Anfang März beginnen. Im Rahmen der Kampagne soll es auch drei gemeinsame Auftritte des CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu mit Meral Akşener, der Vorsitzenden der Iyi-Partei, geben. CHP und Iyi koalieren für die Kommunalwahlen im sogenannten „Bündnis der Nation“.

Bei seinen Wahlkampfauftritten verfolgt Präsident Erdoğan eine Doppelstrategie. Während er einerseits seine Wähler vor der CHP warnt, indem er an die „dunkle“ Zeit vor der AKP-Regierung erinnert und somit auf die Versorgungslücken jener Tage anspielt, beschuldigt er andererseits die prokurdische HDP, der politische Arm der PKK zu sein. Oberstes Ziel ist es, von den wirtschaftlichen Problemen des Alltags abzulenken. Um die Verbindung HDP-PKK auch visuell deutlich zu machen, hat die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu ein Infoblatt erstellt, das die mutmaßliche Verbindung von HDP-Kandidaten zum PKK-Terrorismus verdeutlichen soll. Wie immer vor Wahlen spielt Erdoğan die „nationalistische“ Karte, um seine Wählerschaft zu konsolidieren. Sezai Temelli, den CoVorsitzenden der HDP, rief er auf, das Land zu verlassen: „In meinem Land gibt es kein Kurdistan. Geh in den Süden, in den Irak, dort gibt es eine Region namens Kurdistan. In der Türkei jedoch gibt es ein solches Gebiet nicht.“ Auslöser für diesen Ausruf war ein Statement Temellis, in dem er vor Abgeordneten seiner Partei bekräftigte, dass die HDP in „Kurdistan“ gewinnen und im Westen die AKP an einem Sieg hindern werde. Der geographische Begriff Kurdistan bezeichnet an sich ein nicht exakt begrenztes Gebiet in Vorderasien, das sich über vier Staaten – Türkei, Iran, Irak und Syrien – erstreckt und – neben anderen ethnischen Gruppen – mehrheitlich von Kurden bewohnt wird. In der modernen, republikanischen Türkei – ganz im Gegensatz zu ihrem Vorgängerstaat, dem Osmanischen Reich - ist die Verwendung des Begriffs Kurdistan problematisch und untersagt. Die zentralistische Staatsstruktur und das monoethnische Verständnis der Nation verbieten den Gebrauch von Bezeichnungen, die auf eine heterogene und multiethnische Struktur der Gesellschaft hinweisen könnten. So wird auch im Parlament der Gebrauch des Kurdischen den Abgeordneten der HDP de facto untersagt – das Mikrofon wird umgehend ausgeschaltet, wenn ein Parlamentarier Kurdisch spricht. In den Parlamentsprotokollen findet sich dann zumeist die Bemerkung: „Nutzung einer unbekannten Sprache“.

Das türkische Parlament hat einen neuen Präsidenten gewählt. Mustafa Şentop, Abgeordneter der regierenden AKP, wurde in der dritten Abstimmungsrunde mit 336 Stimmen Nachfolger von Binali Yıldırım, der zuvor aufgrund seiner Kandidatur für den Posten des Oberbürgermeisters der Stadt Istanbul von diesem Amt hatte zurücktreten müssen. Yıldırım hatte zunächst – allen Hinweisen auf den Wortlaut der Verfassung zum Trotz – keinen Grund gesehen, vom Amt des Parlamentspräsidenten zurückzutreten, sich dann aber doch dem allgemeinen Druck gebeugt.

Nach heftigen Debatten über sogenannte „Geisterwähler“ hat die türkische Wahlbehörde mehrere Zehntausend Namen aus den Listen gestrichen, mit denen sich die Bürger für die Kommunalwahlen registrieren lassen konnten. In den Listen seien knapp 91.000 Wähler gefunden worden, die nicht am angegebenen Wohnort gemeldet waren, so der Chef der umstrittenen Behörde, Sadi Güven. Die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische CHP, hatte zuvor über die Medien die Befürchtung geäußert, das Ausmaß des Geisterwähler-Phänomens sei so groß, dass das Wahlergebnis durch die Unregelmäßigkeiten beeinflusst werden könne. Auch die prokurdische HDP formulierte ähnliche Sorgen. Güven wies die Vorwürfe zurück und erklärte, es gebe „weder doppelte, noch falsche, noch imaginäre Wähler“. Namen von Verstorbenen seien inzwischen aus den Wählerlisten entfernt worden.

Gerüchte, wonach ehemalige „Alphatiere“ der AKP sich mit Parteigründungsplänen tragen, werden dieser Tage immer lauter. Demnach sollen der ehemalige Wirtschaftsminiser Ali Babacan, der frühere Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu und Abdullah Gül, Gründungsmitglied der AKP, früherer Premierminister und Präsident, daran arbeiten eine neue politische Partei zu gründen. In ihr sollen zahlreiche ehemalige Politiker nicht nur der AKP, sondern auch anderer Parteien eine neue Heimstätte finden. Kurz nach den Kommunalwahlen am 31. März soll die Partei der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Angesichts der Tatsache, dass es in der Türkei immer wieder Gerüchte nach der Gründung einer neuen konservativen Partei gegeben hat, diese sich jedoch nie bewahrheitet haben, vermuten Kritiker, dass es sich womöglich um einen Aprilscherz handelt.

Nach mehreren tödlichen Unglücken musste der Generaldirektor der Eisenbahngesellschaft TCDD, Isa Apaydın, seinen Posten räumen. Im vorigen Jahr starben bei zwei großen Unfällen – am 8. Juli nahe der thrakischen Stadt Çorlu und am 13. Dezember in Ankara – insgesamt 34 Menschen. Apaydın hatte damals für große Empörung gesorgt, da er es nicht für notwendig erachtete, zurückzutreten.

Die Arbeitslosenrate hat sich im Januar von 11,6 Prozent auf 12,3 Prozent erhöht, so das türkische Statistikamt TÜIK. Demnach gibt es nun im Vergleich zum Vormonat knapp 700.000 mehr Menschen, die auf Beschäftigungssuche sind. Die Jugendarbeitslosigkeit (15-24 Jahre) stieg um 4,3 Prozent und beträgt nun 23,6 Prozent. Die „Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei“ (türk. Türkiye Devrimci İşçi Sendikaları Konfederasyonu, kurz: DISK) kritisierte das Statistikamt für seine Berechnungsmethode: Man verwende dort eine sehr eng gefasste Definition von Erwerbslosigkeit, wonach nur diejenigen, die in den letzten vier Wochen offiziell einen neuen Job gesucht haben, als erwerbslos erfasst sind. Wenn, wie von DISK gefordert, auch Langzeitarbeitslose und diejenigen, die zwar nicht aktiv auf Jobsuche sind, aber erklären, umgehend eine Arbeit aufneh- 3 men zu können, hinzugefügt würden, betrüge die reale Arbeitslosenquote 19,3 Prozent. Interessant ist, dass nahezu alle regierungsnahen Medien die aktuellen Arbeitslosenzahlen ignoriert haben.