Türkei
TÜRKEI BULLETIN 14/17
Die politische Krise zwischen Deutschland und der Türkei hat einen neuen Tiefpunkt erreicht: Nach der Verhaftung des Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner und dem Bekanntwerden einer Liste mit den Namen zahlreicher deutscher Firmen, denen Ankara vorwirft, den Terror zu unterstützen, zog Außenminister Sigmar Gabriel die Handbremse. Bei einer Pressekonferenz kündigte er die Neuausrichtung der deutschen Türkei-Politik an. Das bilaterale Klima zwischen beiden Ländern ist vergiftet. Während Premierminister Binali Yıldırım und andere Minister versuchten, rhetorisch abzubauen, blieb Erdoğan bei seiner altbekannten Rhetorik: Deutschland solle „sich zusammenreißen“ und nicht versuchen, die Türkei zu diskreditieren. Wörtlich sagte er: „Uns Angst einzujagen, dafür reicht Eure Kraft nicht!“
Präsidentensprecher Ibrahim Kalın äußerte sich über die englischsprachige regierungsnahe Zeitung ‘Daily Sabah‘ zur Krise zwischen Berlin und Ankara. „Eine Beziehung zwischen der Türkei und Europa auf der Grundlage von Vertrauen, gemeinsamen Interessen, Gleichheit und Respekt ist möglich und notwendig. Türken, Deutsche und Europäer müssen hart daran arbeiten, irrationale Haltungen und unverantwortliche Politik vermeiden, die am Ende allen wehtut“, schrieb er in einem Beitrag. Kalın fügte hinzu: „Es gibt für Deutsche und andere ausländische Staatsbürger keine Bedrohung, wenn sie die Türkei besuchen oder Geschäfte machen.“ Der Sprecher von Erdoğan kritisierte zugleich „die Besessenheit der deutschen Medien mit Erdoğan“. Deren Berichte läsen sich nicht wie seriöse Kommentare, sondern „wie die abschweifenden Gedanken von Geistesgestörten“ lesen.
Vor dem Hintergrund des Streits zwischen Berlin und Ankara haben die Nachrichtensender n-tv und N24 die Werbekampagne eines türkischen Verbandes für den Wirtschaftsstandort Türkei gestoppt. Sprecher beider Sender sagten, dass die Spots mit Fußballprofi Lukas Podolski und den Türkei-Chefs diverser Weltkonzerne nicht mehr ausgestrahlt würden. Die politische Lage habe sich grundlegend verändert; daher sei eine weitere Ausstrahlung der Kampagne nicht sinnvoll. In dem Spot, der seit Mitte Juni ausgestrahlt worden ist, äußern sich Wirtschaftsbosse positiv über ihre Erfahrungen am Wirtschaftsstandort Türkei und werben für Investitionen.
Ein türkisches Gericht hat laut Zeitungsbericht Untersuchungshaft für einen prominenten Regisseur angeordnet, der einen Spielfilm über den Putschversuch vor einem Jahr gedreht hat. Dem in der Vorwoche in Istanbul festgenommenen Ali Avcı werde die „Leitung einer bewaffneten Terrorgruppe“ vorgeworfen. Avcıs Filmprojekt hatte in der Türkei hohe Wellen geschlagen. In einer Vorschau auf den Spielfilm Uyanış (Erwachen) war zu sehen, wie die Familie von Präsident Erdoğan getötet wird, während der Stabschef mit einer Waffe bedroht wird. Die Behörden verdächtigen Avcı nun, Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen zu sein. Das Kuriose an der Geschichte: Avcı soll auch an der letztjährigen Filmbiografie Reis („Chef“), eine Art Propagandafilm über und für Erdoğan, mitgewirkt haben.
Die Evolutionstheorie von Charles Darwin soll in der Türkei ab kommendem Schuljahr nur noch in stark verkürzter Form an staatlichen Schulen unterrichtet werden. Themen wie „Mutation, Auswahl, Adaptation“ würden weiterhin im Biologieunterricht vermittelt, „Naturgeschichte, Evolutionsbiologie und die historische Entwicklung dieser Theorie“ dagegen künftig nur noch an Universitäten gelehrt, so Bildungsminister Ismet Yılmaz bei der Vorstellung der neuen Lehrpläne. Die Evolutionstheorie sei „kontrovers“ und nicht geeignet für Schüler. Im Gegensatz zur Evolutionstheorie findet der Begriff des Dschihad aber nun Platz im Schulplan, was für landesweite Empörung gesorgt hat. „Die wahre Bedeutung des Dschihad ist, sein Land zu lieben, sein Vaterland zu lieben. Verwüsten, Toben und Bekriegen zählt hier nicht dazu“, so Yılmaz.
Achse Berlin-Ankara – ein Scherbenhaufen
Nach der Inhaftierung des Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner und fünf weiterer türkischer NGO-Repräsentanten wegen Terrorverdachts hat Außenminister Sigmar Gabriel in Berlin eine Neuausrichtung der deutschen Türkei-Politik angekündigt. „Der Fall Steudtner zeigt, dass deutsche Staatsbürger in der Türkei vor willkürlichen Verhaftungen nicht mehr sicher sind“, warnte Gabriel. Seine Botschaft: Man muss nicht länger Journalist oder Oppositioneller sein, um am Bosporus in Gefahr zu geraten. Es kann jeden treffen. Steudtner sei alles andere als ein Türkei-Experte gewesen, so Gabriel. „Er ist möglicherweise zum ersten Mal in die Türkei gereist.“ Steudtner habe nie über die Türkei geschrieben, habe keine enge Kontakte zur Opposition oder Zivilgesellschaft gepflegt und sei nie als Kritiker in Erscheinung getreten.
Gabriel hatte seinen Urlaub an der Nordsee abbrechen müssen und war nach Berlin geeilt, um diese wichtige Pressekonferenz abzuhalten. Wenn Bundesminister ihren Urlaub unterbrechen, geht es selten um Kleinigkeiten. In seinem Statement kündigte Gabriel an, die Reise- und Sicherheitshinweise für das Land anzupassen. Zudem müssten Investitionskredite und Wirtschaftshilfen wie Hermesbürgschaften ebenso überdacht werden wie Vorbereitungshilfen der EU für einen Beitritt der Türkei.
Beide Länder sind wirtschaftlich eng miteinander verflochten. Das Handelsvolumen betrug zuletzt 37 Mrd. Euro. Während Deutschland Waren im Wert von 22 Mrd. Euro in die Türkei exportierte, verkaufte diese Produkte im Wert von 15 Mrd. Euro an Deutschland. 2015 hatte die Bundesregierung noch Türkei-Geschäfte deutscher Firmen mit 2,1 Mrd. Euro abgesichert. Außerdem sind knapp 6.800 deutsche Firmen über unterschiedliche Wege in der Türkei tätig. Trotz eines bereits starken Rückgangs waren die Deutschen im Jahre 2016 mit knapp vier Mio. Besuchern immer noch die größte Gruppe unter den ausländischen Türkei-Touristen.
Peter Steudtner ist einer von mittlerweile 22 Deutschen, die seit dem letztjährigen Putschversuch in der Türkei festgenommen worden sind; neun von ihnen sitzen nach wie vor im Gefängnis. Mit dem Fall Steudtner hat Präsident Erdoğan das Fass zum Überlaufen gebracht. Nach Nazi-Beleidigungen, nach Streitigkeiten um Besuchsverbote bei der Bundeswehr, nach Menschenrechtsverletzungen und Verhaftungen ist die Bundesregierung mit ihrer Geduld gegenüber dem zunehmend autokratisch regierenden Erdoğan am Ende. „Wir können nicht mehr so weitermachen wie bisher“, sagte Gabriel. „Wieder und wieder haben wir […] Geduld geübt, wenn es Vorwürfe gab, die zum Teil für deutsche Ohren unerträglich waren, uns zurückgenommen und eben nicht mit gleicher Münze zurückgezahlt. Wieder und wieder haben wir darauf gesetzt, dass schon irgendwann die Vernunft einkehren werde und wir zu gedeihlichen Beziehungen zurückfinden können.“ Es klang fast so, als wollte Gabriel sich rechtfertigen für die Zurückhaltung der Bundesregierung in den vergangenen Monaten. Man wisse schließlich um den mühsamen EU-Beitrittsprozess und die Empfindlichkeiten der türkischen Seite. Auf den Putschversuch habe man aus Sicht der Türkei in Deutschland nicht warmherzig und emotional genug reagiert. Vor allem habe man drei Mio. Menschen mit türkischen Wurzeln im eigenen Land, die seien ganz wichtig, die hätten das Land ja mit aufgebaut. Aus diesen Gründen habe man immer wieder versucht, die Aufregung zu dämpfen, man habe jeden noch so ungehörigen Vorwurf geschluckt, Beleidigungen hingenommen, habe auf Dialogbereitschaft gesetzt.
Bereits zuvor war der türkische Botschafter in Berlin einbestellt worden. Man habe ihm „klipp und klar gesagt, dass die Verhaftung von Steudtner und anderen Menschenrechtsaktivisten nicht nachvollziehbar und auch nicht akzeptabel und schon gar nicht vermittelbar ist“. Die gegen Steudtner erhobenen Terrorvorwürfe seien an den Haaren herbeigezogen. Er müsse unverzüglich freigelassen werden. Das Vorgehen gegen Menschenrechtsorganisationen sei eine „dramatische Verschärfung“. Für Aufsehen hatte auch ein Bericht gesorgt, demzufolge Ankara gegenüber deutschen Behörden mehrere deutsche Firmen – zunächst war die Rede von knapp 70 Firmen, später von fast 700! – der Terrorunterstützung beschuldigt habe, unter ihnen einige namhafte Firmen wie Daimler, Siemens oder BASF. Bundeskanzlerin Angela Merkel rechtfertigte die Neuausrichtung der deutschen Türkei-Politik. Die von Gabriel vorgestellten Maßnahmen gegenüber der Türkei seien „angesichts der Entwicklung notwendig und unabdingbar“, schrieb Regierungssprecher Steffen Seibert im Namen der Kanzlerin im Kurznachrichtendienst Twitter. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier begrüßte die schärfere Politik der Regierung gegenüber der Türkei: „Das ist auch eine Frage der Selbstachtung unseres Landes, finde ich, hier deutliche Haltsignale zu senden.“
Unmittelbar nach der Pressekonferenz des Außenministers machte das Wirtschaftsministerium klar, dass auch Rüstungsprojekte „auf den Prüfstand gestellt werden“. Einzelheiten wurden nicht bekannt. Seit Januar 2016 hat Deutschland laut Ministerium elf Anträge abgelehnt, aber Geschäfte von mehr als 100 Mio. Euro genehmigt. Voraussichtlich wird das zuständige Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle nun keine neuen Ausfuhrgenehmigungen mehr erteilen. Bereits entschiedene Projekte dürften zunächst nicht betroffen sein, da gegen die Türkei bisher keine internationalen Sanktionen verhängt worden sind. Sollte die Auslieferung bereits geschlossener Deals gestoppt werden, drohen der Bundesregierung Entschädigungszahlungen an die betroffenen Firmen. 2016 hat Deutschland den Export von Rüstungsgütern im Volumen von 83,9 Mio. Euro an die Türkei genehmigt. In den ersten vier Monaten 2017 waren es Geschäfte im Wert von 22 Mio. Euro. Dabei handelt es sich um Zulieferungen für die Marine und für Gemeinschaftsprojekte mit anderen NATO-Partnern. Deutschland habe Anträge bereits seit dem Putschversuch vom Juli 2016 schärfer geprüft, heißt es aus Regierungskreisen.
Regierungsnahe Krawallmedien stürzten sich mit Vergnügen auf die Krise zwischen Deutschland und der Türkei. Sie reagierten empört auf die verschärfte Politik Berlins und die Forderung nach der Freilassung deutscher Häftlinge in der Türkei. „Bei uns ist die Justiz unabhängig, Hans“, lautete die Schlagzeile auf dem Titel der Zeitung ‘Türkiye‘. Mit „Hans“ umschreibt Erdoğan regelmäßig die Deutschen. Das inoffizielle Parteiblatt ‘Star‘ schrieb: „Neues EU-Kriterium: Freiheit für Agenten.“ Darunter zeigte das Blatt Fotos des Welt-Korrespondenten Deniz Yücel und des Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner, die sich in der Türkei in Untersuchungshaft befinden. Wenige Tage später bezeichnete das Blatt Steudtner als „Chaos-Trainer-Peter“. ‘Star‘ berichtete unter Berufung auf Steudtners Aussage bei der Staatsanwaltschaft, das deutsche Generalkonsulat habe beim NGO-Seminar auf der Prinzeninsel Büyükada durch den Einsatz eines Computerprogramms über jeden Schritt Bescheid gewusst. Das Blatt unterstellt den Menschenrechtlern, einen „Aufstand“ geplant zu haben.
‘Star‘ nennt das Programm „Elefand“. Tatsächlich handelt es sich hierbei um eine Krisenvorsorgeliste, in die sich Deutsche bei den Auslandsvertretungen freiwillig eintragen können. Ziel sei, dass die jeweilige Vertretung in „Krisen- und sonstigen Ausnahmesituationen mit Deutschen schnell Verbindung aufnehmen kann“, heißt es beim Auswärtigen Amt hierzu. Die ‘Akşam‘ titelte: „Die Deutschen toben“, was auch als „Die Deutschen sind tollwütig geworden“ übersetzt werden kann. Die Schlagzeile der islamistischen Tageszeitung ‘Yeni Akit‘ lautete: „Schlimmer als Hitler“. Dazu zeigte das Blatt ein Foto von Kanzlerin Merkel mit Hakenkreuz und folgendem Text: „Bei der Unterdrückung und beim Hass hat Merkels Deutschland Hitler überholt.“ Die Zeitung schreibt, in Deutschland würden kranke Türken nicht behandelt, türkische Arbeiter würden entlassen, Wohnungen würden nicht mehr an Türken vermietet.
In den Reaktionen auf die Erklärung Gabriels waren Premierminister Binali Yıldırım und weitere Minister sichtlich um Deeskalation bemüht. Während Erdoğan weiterhin und wie gewohnt gegen Berlin wütete, erklärte Yıldırım in Ankara: „Mein Appell hier lautet, mit Besonnenheit zu handeln […]. Es bringt weder Deutschland noch der Türkei etwas, wenn die Beziehungen beschädigt werden.“ Er plädierte dafür, die Spannungen nicht weiter zu erhöhen: „Unsere Regierung sieht Deutschland auch heute noch als einen strategischen Partner in Europa.“ Der Ministerpräsident verwies auf die weit zurückreichenden bilateralen Beziehungen und auf die Waffenbrüderschaft zwischen den Deutschen und dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg. Yıldırım dementierte, dass gegen deutsche Unternehmen in der Türkei im Zusammenhang mit Terrorvorwürfen ermittelt werde: „Das ist gänzlich gelogen, so etwas gibt es nicht.“ Die Existenz einer Liste mit Vorwürfen gegen deutsche Firmen, die den deutschen Behörden überreicht worden war, erwähnte er indes nicht. Deutsche Sicherheitsbedenken wies der türkische Premier zurück. Die Türkei sei genauso sicher wie Deutschland.
Sein Wirtschaftsminister Nihat Zeybekçi versuchte derweil die Gemüter der deutschen Investoren zu beruhigen: Deutsche Investitionen in der Türkei seien durch die türkische Regierung und die Gesetze des Landes garantiert. Berichte, die Türkei habe der deutschen Regierung eine Liste mit Firmen zukommen lassen, denen sie Verbindungen zu dem Putschversuch 2016 vorwerfe, wies der Minister als falsch zurück: „Wir müssen auf Töne, die die Wirtschaft belasten könnten, verzichten.“ Die Krise mit Deutschland sei vorübergehend, sagte Zeybekçi weiter. Mit Aussagen, die nachhaltigen wirtschaftlichen Schaden anrichten könnten, müsse man sich zurückhalten: „Deutschland muss Kommentare, die unangebracht sind, überprüfen.“
Obwohl in den Statements des türkischen Ministerpräsidenten und seiner Minister die ominöse Liste mit den Namen deutscher Firmen nie vorkam, zog die Türkei wenige Tage nach Gabriels Pressekonferenz die Liste überraschend zurück. Innenminister Süleyman Soylu habe bei einem Telefonat mit seinem deutschen Amtskollegen Thomas de Maiziére von einem „Kommunikationsproblem“ der türkischen Polizeibehörden gesprochen, erklärte ein Sprecher des Ministeriums. Soylu habe versichert, dass es keine Ermittlungen gegen die auf einer Liste aufgeführten Unternehmen gebe. Bekir Bozdağ, bisher Justizminister und seit der kürzlichen Kabinettsumbildung Vize-Premier, bestätigte ein „Kommunikationsproblem“. Über Interpol sei eine Liste mit Namen von 140 verdächtigen türkischen Firmen an Länder übermittelt worden, mit denen diese Firmen Handel betrieben. „Die Bitte um Informationen ist am Wochenende zurückgezogen worden. Es ging definitiv nicht um irgendwelche Untersuchungen gegen deutsche Firmen.“ Bozdağ erklärte nicht, wie seine Aussagen mit der Liste zusammenpassen, die nach Angaben der Bundesregierung an Deutschland übermittelt worden war. Der türkische Vize-Premierminister (und zugleich Regierungssprecher) betonte erneut: „Es gibt keine Strafverfolgung, keine Untersuchungen, die die Justizbehörden gegen deutsche Unternehmen in der Türkei oder deutsche Unternehmen in Deutschland durchführen.“ Zuvor hatte sich auch schon Präsident Erdoğan zu diesem Thema geäußert. Bei den Berichten, dass gegen deutsche Firmen in der Türkei wegen Terrorunterstützung ermittelt werde, handele es sich um „Lügen“. Allerdings gebe es solche Ermittlungen gegen türkische Firmen.
‘Cumhuriyet‘-Prozess: Pressefreiheit wird verteidigt
Rund neun Monate nach ihrer Inhaftierung begann am 24. Juli in Istanbul der Prozess gegen mehr als ein Dutzend Mitarbeiter der regierungskritischen Zeitung ‘Cumhuriyet‘. Der Prozessauftakt fiel auf den symbolträchtigen 24. Juli, der Tag, an dem in der Türkei in Erinnerung an die Aufhebung der Zensur im Jahre 1908 die Pressefreiheit gefeiert wird. Während der Prozess in internationalen Medien große Beachtung fand, – die französische „Libération“ erschien mit einer 6-seitigen Extrabeilage – wurde er in den türkischen Medien nur am Rande behandelt. Regierungsnahe Hetzblätter attackierten in ihrer ‘Berichterstattung‘ weiterhin die ‚Cumhuriyet‘-Journalisten. Der Prozess wurde von Beginn an von Protesten begleitet. Am ersten Tag führte ein Protestzug der türkischen Journalistenvereinigung TGS (türk. Türkiye Gazeteciler Sendikası) vom Redaktionsgebäude der ‘Cumhuriyet‘ zum Gerichtskomplex im Stadtteil Çağlayan. Unterstützer der Angeklagten ließen dort bunte Luftballons aufsteigen. „Schweigt nicht! Freie Medien sind ein Recht!“, skandierten sie.
Zu Beginn des Prozesses hatten mehrere internationale Organisationen, die das Verfahren beobachten, die Terrorvorwürfe als „politisch motiviert“ zurückgewiesen. Reporter ohne Grenzen (RoG), die Europäische Journalistenvereinigung, Pen International, das International Press Institute und das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit kritisierten, in keinem Land der Welt seien mehr Journalisten hinter Gittern als in der Türkei. Nach Angaben der unabhängigen türkischen Journalistenplattform P24 befinden sich inzwischen mindestens 166 Journalisten im Gefängnis. Präsident Erdoğan hatte kürzlich noch erklärt, dass nur „zwei echte Journalisten“ hinter Gittern seien. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) forderte ein sofortiges Ende des Verfahrens und die Freilassung der Inhaftierten. RoG-Geschäftsführer Christian Mihr bezeichnete den Prozess als „hanebüchen“. Das Verfahren sei „an Absurdität nicht zu überbieten, denn was all diese Journalisten verbindet ist, dass sie in erster Linie unabhängig berichtet haben“, so Mihr – kritisch gegen die regierende AKP und den Präsidenten Erdoğan. „Und das versucht man hier auszumerzen“, sagte Mihr, der als Beobachter in Istanbul weilt. Aus Sicht seiner Organisation handele es sich auch um „einen symbolischen Prozess“. ‚Cumhuriyet‘ sei die älteste Zeitung der Türkei und habe „ihre Flagge für die Pressefreiheit in der Türkei immer hochgehalten“. Für RoG sei es deshalb wichtig, „den Kollegen den Rücken zu stärken und zu sagen: Wir vergessen Euch nicht“.
Den insgesamt 17 Journalisten und Zeitungsmanagern – elf davon zu Beginn des Prozesses in Haft – wird die Unterstützung von „terroristischen Organisationen“ vorgeworfen. Nach Angaben ihrer Anwälte werden alle ‚Cumhuriyet‘-Angeklagten – unter ihnen auch der ehemalige Chefredakteur der Zeitung, Can Dündar, der sich mittlerweile im deutschen Exil befindet – beschuldigt, die kurdische PKK, die Gülen-Bewegung und die linksextreme DHKP-C zu unterstützen. Konkrete Anklagepunkte – etwa, wie die Unterstützung ausgesehen habe – nennt die Anklageschrift nicht. Die Anschuldigungen beziehen sich auf die alltägliche Arbeit von Journalisten: Die Angeklagten sollen von Personen angerufen worden sein, die verdächtigt werden, der Gülen-Bewegung anzugehören. Neben Telefonanrufen werden auch Finanztransaktionen als Beweise für den Kontakt zu oder die Unterstützung einer Terrororganisation angeführt. Die Zahlungen sind laut Angaben der Angeklagten jedoch etwa dafür aufgewendet worden, die Werbung oder den Druck der Zeitung zu zahlen.
In der Anklageschrift wird Ex-Chefredakteur Dündar u. a. beschuldigt, die politische Ausrichtung des Blattes geändert zu haben. Die Zeitung habe unter seiner Führung die Terrororganisation PKK, die Gülen-Bewegung und die DHKP-C verteidigt, heißt es. Als Indizien werden Zeitungsartikel angeführt, etwa ein Bericht aus dem Jahre 2015, in dem die ‘Cumhuriyet‘ geheime Informationen veröffentlichte, die Waffenlieferungen der Regierung an Rebellen in Syrien belegen sollen. Dafür wurden Dündar und der Hauptstadtkorrespondent Erdem Gül in einem anderen Verfahren schon zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Geheimnisverrats verurteilt. Der Abgeordnete Enis Berberoğlu von der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP sitzt bereits wegen Weitergabe der geheimen Informationen für 25 Jahre hinter Gittern. Auch Twitter-Nachrichten der Journalisten werden in der Anklage aufgeführt; im Fall des bekannten Enthüllungsjournalisten Ahmet Şık etwa mehrere, die den Konflikt zwischen Regierung und PKK thematisieren. Auch Publikationen, die die Unterwanderung des Staates durch die Gülen-Bewegung untersucht haben, machten Şık immer wieder zur Zielscheibe. Schon vor Jahren hatte er vor einer solchen Infiltrierung staatlicher Stellen durch Anhänger des umstrittenen Predigers gewarnt und seine Recherchen im Jahre 2011 – zu einem Zeitpunkt also, als die AKP und die Gülen-Bewegung noch gemeinsame Sache machten – in dem Buch ‘Die Armee des Imam‘ publiziert. Gülen-nahe Staatsanwälte hatten daraufhin gegen Şık ermittelt und ihn monatelang in Untersuchungshaft gehalten. Şık kritisierte aber zugleich, dass Präsident Erdoğan die Gülen-Bewegung bis zum öffentlichen Bruch Ende 2013 förderte. Auch nach dem Putschversuch wies Şık immer wieder auf die frühere Nähe von Gülen und Erdoğan hin, was die Regierung wohl als eine Gefahr für sich sieht.
Der renommierte Kolumnist Kadri Gürsel ist der erste, der seine Verteidigungsrede hielt. Er ist Berater des Vorstands von ‘Cumhuriyet‘, kein Mitglied, wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift fälschlicherweise behauptet. Gürsel erklärte dem Richter und den Staatsanwälten die Organisation von ‘Cumhuriyet‘, wie Nachrichten gemacht werden, selbst die Buchhaltung der Zeitung. Denn ‘Cumhuriyet‘ ist anders als die allermeisten Zeitungen des Landes nicht Teil eines großen Mischkonzerns, der von öffentlichen Aufträgen lebt; die Zeitung führt sich selbst mit einer Stiftung. Die Vorwürfe gegen ihn, seine angebliche Arbeit für die Gülen-Bewegung, den Ankara für den Putschversuch vom Vorjahr verantwortlich macht, nennt Gürsel völlig grundlos und „außerhalb der Realität“. Mit genau 122 Benutzern des Nachrichtendienstes ByLock soll Gürsel in Verbindung gestanden haben, so die Staatsanwaltschaft. ByLock ist eine gesicherte Nachrichtenanwendung, mit deren Hilfe offenbar Mitglieder der Gülen-Bewegung zeitweise verdeckt kommunizierten.
Gürsel zerlegte in seiner Verteidigungsrede diese Statistik. Am Ende blieben acht Personen, von denen der Journalist sagt, dass er aus beruflichen Gründen tatsächlich mit ihnen gesprochen habe. Journalistische Neugier könne nicht rechtlich verfolgt werden, stellte Gürsel fest. Dass diese Personen auf ihrem Telefon ByLock installiert hatten, wusste er nicht. Auch die Anklage gegen Akın Atalay ist voller Absurditäten. Atalay hatte laut Anklageschrift den Fussboden seiner Wohnung von einem Handwerker legen lassen, dessen Sohn Geschäftsverbindungen zu einem Restaurant in Bursa pflegte, welches von einem angeblichen Anhänger der Gülen-Bewegung geleitet wurde – für die Staatsanwaltschaft ein hinreichender Terrorverdacht. Der zweite Tag der Anhörungen begann mit dem aktuellen Chefredakteur der Zeitung. Murat Sabuncu kritisierte die monatelange Untersuchungshaft für sich und seine Mitarbeiter. „Der Preis für unabhängigen Journalismus in der Türkei ist, verhaftet zu werden, im Gefängnis zu sitzen, und neun Monate auf die Verteidigung zu warten. Wir haben all das erlebt“, sagte Sabuncu bei seiner Erklärung. Den Vorwurf der Terrorunterstützung wies er zurück.
„Der Prozess ist die politische Rache von Anwälten, die von der Regierung kontrolliert werden, um Journalisten zu bestrafen“, fasst RoG-Vertreter Johann Bihr die ersten beiden Verhandlungstage zusammen. „Die Journalisten von ‘Cumhuriyet‘ werden strafrechtlich verfolgt wegen ihrer Kritik an dem autoritären Kurs der Regierung.“ Bei den Anhörungen hätten sich alle Fragen um die redaktionelle Ausrichtung der Zeitung gedreht. Die Richter hätten etwa die Wahl der Überschriften der Berichte thematisiert. Diese sollen angeblich von in der Anklage definierten Terrororganisationen „diktiert“ worden sein. Laut Bihr steht die Zukunft der türkischen Pressefreiheit auf dem Spiel. „Die Tatsache, dass Berichte, die sich kritisch gegen die Regierung richten, als Basis zur Unterstützung von Terroristen genommen werden, sendet eine Botschaft an alle Journalisten in der Türkei, dass sie manche Themen nicht behandeln können und wenn doch, Gefahr laufen, ins Gefängnis zu kommen“, sagte Bihr.
Als einer der letzten Angeklagten erhob Şık in seiner Verteidigungsrede schwere Vorwürfe gegen Präsident Erdoğan. Dieser und seine islamisch-konservative AKP hätten der Gülen-Bewegung jahrelang „gegeben, was sie auch immer wollten“ und damit zugelassen, dass sie zu einer gefährlichen Kraft im Staat werden konnte, so der Journalist. „Deswegen sind unter den Verantwortlichen des Putschversuchs vom 15. Juli Erdoğan und seine AKP“, sagte Şık. Laut Angaben der ‘Cumhuriyet‘ kritisierte er vor Gericht die Maßnahmen unter dem seit mehr als einem Jahr andauernden Ausnahmezustand. Grundrechte seien ausgesetzt worden. „Der Putsch am 15. Juli wurde verhindert, aber die Junta ist an der Macht.“ Später am Tag verteidigten sich die Kolumnisten Hikmet Çetinkaya, Aydın Engin und Orhan Erinç.
Nach etwa einer Woche Verteidigungsreden kamen dann sieben Angeklagte unter Auflagen auf freien Fuß, die übrigen vier befinden sich weiterhin in Haft. „Wir wurden von den Menschen, die wir lieben, unseren Verwandten und unserer Arbeit ferngehalten“, so der Karikaturist Musa Kart, der nach 271 Tagen Haft freikam. Neben Kart wurden auch der Literaturchef der Zeitung sowie Mitarbeiter aus der Justizabteilung vorläufig auf freien Fuss gesetzt; sie bleiben angeklagt und müssen sich regelmäßig bei den Behörden melden. ‘Cumhuriyet‘ nannte die Freilassung von sieben Angeklagten bei gleichzeitig andauernder U-Haft für die anderen Beschuldigten eine „halbe Demokratie“.
Kart konnte sich bei seiner Freilassung nicht freuen. „Leider sind noch vier unserer Freunde hinter Gittern“, bedauerte er. Dabei handelt es sich um die prominentesten Angeklagten – Herausgeber Akın Atalay, Chefredakteur Murat Sabuncu, Investigativjournalist Ahmet Şık und Kolumnist Kadri Gürsel. Das Gericht befürwortete außerdem neue Ermittlungen gegen Şık, die die Staatsanwaltschaft nach Angaben von ‘Cumhuriyet‘ wegen „Verunglimpfung des Türkentums“ gefordert hatte. Grundlage ist ausgerechnet die Erklärung von Şık, die er zwei Tage zuvor vor Gericht zu seiner eigenen Verteidigung abgegeben hatte. Er hatte darin mit Blick auf die Terrorvorwürfe gegen die Angeklagten u. a. gesagt: „Die Organisation, die sie bei der Zeitung suchen, regiert unter dem Deckmantel einer politischen Partei das Land.“ Nach dem Beschluss über seine fortdauernde Inhaftierung rief Şık im Gerichtssaal: „Das heute hier ergangene Urteil besagt: Wir werden Euch in die Knie zwingen!“ Alle Tyrannen müssten aber wissen, dass er nur in die Knie gehe, „um die Hand meiner Mutter und meines Vaters zu küssen“.
Die nächste Anhörung ist für den 11. September angesetzt. Das Gericht wolle noch bis Jahresende ein Urteil fällen. Sollten die Angeklagten verurteilt werden, drohen ihnen jeweils bis zu 43 Jahre Haft.
Kabinettsumbildung – Erdoğan schließt die Reihen
„In der Politik gibt es keine Gerechtigkeit“ twitterte Burhan Kuzu, AKP-treuer Professor für Verfassungsrecht, nachdem er erfahren hatte, dass im neuen Kabinett kein Posten für ihn vorgesehen war. Kuzu hatte schon einmal einen der jährlichen EU-Fortschrittsberichte zur Türkei vor laufender Kamera in den Mülleimer geworfen und Österreichs Kanzler Christian Kern per Twitter wissen lassen: „Verpiss dich, Ungläubiger!“ Staats- und Parteichef Erdoğan tauschte nun fünf Minister im Kabinett aus, das formell noch weiter von Regierungschef Binali Yıldırım geführt wird. Nach der nächsten Präsidenten- und Parlamentswahl – spätestens im Herbst 2019 – tritt die Verfassungsänderung in Kraft, und das Amt des Premierministers ist dann nur noch etwas für die Geschichtsbücher. Große Überraschungen gab es bei diesem Revirement nicht. Loyalität und Verjüngung waren die bestimmenden Kriterien bei den Personalbesetzungen.
Erdoğan ließ sowohl Vizepremier Mehmet Şimşek als auch Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu im Amt. Şimşek ist der letzte Vertreter des Finanz- und Wirtschaftsteams, das die Türkei durch die Boomjahre führte und internationalen Investoren Vertrauen gegeben hat. In Çavuşoğlus Amtszeit seit 2014 sind die Beziehungen der Türkei zu Deutschland und einer Reihe anderer EU-Staaten auf dem Tiefpunkt angelangt. Beim Verfassungsreferendum war Çavuşoğlu einer der Minister, der in seinem Heimatwahlbezirk keine Mehrheit für ein „Ja“ erreicht hatte. Erdoğan honorierte nun seine Loyalität. Justizminister Bekir Bozdağ und Verteidigungsminister Fikri Işık mussten ihre Ressorts abgeben, erhielten aber an deren Statt jeweils den Titel eines stellvertretenden Premiers. Zu den vergleichsweise jungen Neuzugängen ohne Kabinettserfahrung zählen Hakan Çavuşoğlu (45), der ebenfalls Vizepremier wurde, der neue Justizminister Abdülhamit Gül (40) und die neue Arbeits- und Sozialministerin Jülide Sarıeroğlu (38). Frau Sarıeroğlu – nunmehr das zweite weibliche Kabinettsmitglied – kam sogleich in den sozialen Medien wegen zweier Tweets aus dem Jahre 2013 in Bedrängnis. In einem der Tweets hatte sie während der Gezi-Proteste freudig eine Anti-Erdoğan-Demo in ihrer Heimatstadt bekannt gegeben; in dem anderen hatte sie sich bewundernd über den Prediger Fethullah Gülen geäußert – mittlerweile Staatsfeind Nr. 1.
Ein Stück Textil und seine Folgen
An Absurditäten mangelt es in der Türkei seit geraumer Zeit sicherlich nicht. Bei den neuesten Meldungen, die zu dieser Kategorie gehören, geht es um die Festnahme von Menschen, die ein T-Shirt mit der Aufschrift Hero in Großbuchstaben und dem Slogan „Helden sind unsterblich“ tragen. In der Türkei sind binnen einer Woche über ein Dutzend Menschen festgenommen worden, weil sie ein solches T-Shirt getragen haben. Zuletzt wurden ein Paar in Antalya sowie ein Jugendlicher in Çanakkale im Westen des Landes aus diesem Grund festgenommen, so Nachrichtenagenturen.
Die türkischen Behörden sehen in dem Aufdruck eine Unterstützerbotschaft für die Putschisten, die vor einem Jahr versucht hatten, Erdoğan zu stürzen. Die Festnahmewelle hatte nach dem Auftritt eines Angeklagten in einem Prozess gegen mutmaßliche Putschisten begonnen, der ein T-Shirt mit eben diesem Aufdruck getragen hatte. Erdoğan hatte sich danach dafür ausgesprochen, dass die Angeklagten künftig bei Prozessen in einheitlicher Bekleidung, ähnlich den Insassen des US-Gefangenenlagers Guantánamo, in den Gerichtssaal geführt werden sollten. Binnen einer Woche wurden nach Angaben der Nachrichtenagenturen Doğan und Anadolu mindestens 15 Menschen aus diesem Grund festgenommen. Die meisten waren Jugendliche und Studenten. Mindestens zwei Festgenommenen wird nun ‘Terrorpropaganda‘ zur Last gelegt. Der in Çanakkale festgenommene Jugendliche wurde von Passanten angezeigt. Er sei von Polizisten gezwungen worden, ein rotes T-Shirt anzuziehen, bevor er zum Polizeikommissariat abgeführt wurde.