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Russland
Verhaftungen von Spaziergängern

Über 800 Menschen wurden in Moskau verhaftet, erklärt Russland-Experte Julius von Freytag-Loringhoven
Russland Demo

Die Polizei nimmt in Moskau einen Mann fest.

© picture alliance/Maxim Grigoryev/TASS/dpa

Nachdem bereits am letzten Wochenende im Juli Tausende Menschen in Moskau auf die Straße gegangen sind, um für die Zulassung von Oppositionskandidaten bei den Regionalwahlen am 8. September zu demonstrieren, waren am vergangenen Samstag wieder Tausende im Zentrum von Moskau unterwegs.

Nach Polizeigewalt Ende Juli sowie dem Verbot der Behörden, am vergangenen Wochenende im Zentrum zu demonstrieren, verhielt sich die wachsende Anzahl der Unterstützer der Proteste vorsichtig. Dennoch wurden, nach Angaben der unabhängigen Beobachter von OVD-Info, über 800 Menschen verhaftet. Im Interview mit Julius von Freytag-Loringhoven, Leiter des Moskauer Büros, versucht freiheit.org den Hintergründen der Proteste nachzugehen. 

Was prangern die Menschen an – und was motiviert sie, wieder und wieder auf die Straßen zu gehen? 

JFL: Vor einer Woche sind die Menschen auf die Straße gegangen, weil man Kandidaten der Opposition nicht zur Wahl zulassen wollte. Die Mächtigen hatten extra eine Hürde eingeführt, dass unabhängige Kandidaten im Schnitt um die 4.000 bis 5.000 Unterschriften sammeln mussten, um zugelassen zu werden. Das ist ihnen in dem Moment um die Ohren geflogen, als sie plötzlich - natürlich nur bei Oppositionskandidaten - behaupteten, dass vieler der Unterschriften nicht gültig seien. Wenn aber mehrere Tausend Menschen bereits ihre Unterschriften für die Zulassung unabhängiger Kandidaten geleistet haben, lassen sie sich ihre Beteiligung nicht so einfach kaputt machen. Dass an diesem Wochenende wieder so viele Menschen ins Zentrum gekommen sind, liegt aber auch daran, dass die jüngsten Bilder und Videos von Polizeigewalt die Menschen zusätzlich gegen die Mächtigen aufgebracht haben.

Haben diese Proteste Einfluss auf die Staatsführung? 

JFL: Gegenwärtig scheint die Staatsführung auf Härte zu setzen. An diesem Wochenende haben sich die Bilder von Polizeigewalt und willkürlichen Verhaftungen wiederholt. Nachdem die Menschen aus Vorsicht ohne Plakate einfach nur durch das Zentrum spazierten, verhafteten die Polizisten dann eben scheinbar willkürlich Spaziergänger. Besonders wird in den russischen sozialen Netzwerken über ein Video gelacht. Da erklärt ein Vertreter der Kreml-nahen Partei LDPR, er sei froh, dass die Polizei die Bürger vor Demonstranten schütze und dass die Polizei sehr zurückhaltend sei. Und während er noch in die Kamera des unabhängigen Internet-Fernsehsenders Dozhd spricht, wird er plötzlich gewaltsam von vermummten Einsatzkräften abtransportiert. 

Ist eine Machtdemonstration die einzige Antwort der Behörden? Was wird vermutlich weiter passieren?

JFL: Leider scheint das in Moskau im Moment so zu sein. In St. Petersburg wurden dagegen Oppositionskandidaten, denen man kurzzeitig die gleichen Vorwürfe ungültiger Unterschriften gemacht hatte, dann doch zugelassen. Es gibt also zumindest noch unterschiedliche Antworten in unterschiedlichen Städten, in denen dieses Jahr Wahlen stattfinden. Die Behördengewalt hat in jedem Fall die Meinung in der Bevölkerung kippen lassen. Ursprünglich unpolitische Menschen fangen plötzlich an, überall über die unverhältnismäßige Gewalt zu sprechen. Mir scheint, dass die Behörden damit genau die Menschen mobilisieren, die sie eigentlich abschrecken wollten. Man kann nur hoffen, dass sich die Staatsmacht besinnt und erkennt, dass Gegenstimmen im Stadtparlament besser sind als Gewalt auf den Straßen.

Was können wir im Westen tun?

JFL: Wir dürfen nicht schweigen, wenn gegen Menschenrechte verstoßen wird oder demokratische Teilhaberechte so dramatisch beschnitten werden. Und wir müssen dafür sorgen, dass unverhältnismäßige Gewalt in den dafür zuständigen Gremien behandelt wird. Deswegen kann man Gyde Jensen, der Vorsitzenden des Ausschusses für Menschenrechte im Deutschen Bundestag, stellvertretend für allen Abgeordneten danken, die die Vorkommnisse der vergangenen Woche im Europarat und anderen Orten thematisieren

 

Julius von Freytag-Loringhoven, Leiter Büro Moskau, Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit.