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Türkei
Wer wählt eigentlich Erdogan?

Ein Querschnitt des typischen Erdoğan-Wählers
Wer wählt eigentlich diesen Mann?

Trotz einer negativen Bilanz in Wirtschaft, Außenpolitik und Menschenrechten ist die Wählerunterstützung für Recep Tayyip Erdoğan, der das Land seit 16 Jahren ununterbrochen regiert, nahezu ungebrochen.

© Martin dm/ Getty Images

Die Türkei im Sommer 2018, kurz vor den als historisch angesehenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen: Seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 befindet sich das Land im Ausnahmezustand, die Menschen- und Freiheitsrechte sind eingeschränkt. Im Kampf gegen die Gülen-Bewegung, die für den versuchten Staatsstreich verantwortlich gemacht wird, wurden hunderttausende Staatsbeamte suspendiert, Tausende befinden sich seit Monaten in Haft. Mehr als 150 Journalisten sind hinter Gittern, dutzende oppositionelle Medien wurden entweder durch staatliche Treuhänder übernommen oder gleich verboten. Die Justiz ist politisiert, Gewaltenteilung weitgehend außer Kraft. Die Beziehungen zu Washington, Brüssel und Berlin sind belastet, sogar die NATO-Mitgliedschaft wird dieser Tage in Frage gestellt. Es ist das Bild eines Landes, das sich immer mehr von der Welt isoliert und nur noch durch Krisen von sich reden macht.

Trotz dieser negativen Bilanz ist die Wählerunterstützung für Recep Tayyip Erdoğan, der das Land seit 16 Jahren ununterbrochen regiert, nahezu ungebrochen.  Mit einem Sieg am 24. Juni hätte Erdoğan – dank des neuen Präsidialsystems – mehr Macht als je zuvor. Vor diesem Hintergrund fragen sich ausländische Beobachter seit Jahren: Wer wählt eigentlich diesen Mann?

Das renommierte Istanbuler Meinungsforschungsinstitut KONDA versucht mit einer umfassenden Analyse der Regierungsanhänger, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Hierfür hat KONDA die monatlich erstellten Stimmungsbarometer im Zeitraum März 2010 bis Oktober 2017 ausgewertet und quasi eine Anatomie der AKP-Wähler erstellt.

Erdoğan-Anhänger haben niedrigeren Bildungsstand als der Durchschnitt

Die AKP-Wählerschaft besteht genau zur Hälfte aus Frauen und Männern. In den Altersgruppen ab 33 Jahren findet die Partei mehr Unterstützung als bei den 18 bis 32-Jährigen.

Ein Fünftel der AKP-Wähler lebt auf dem Land, 35 Prozent in den Städten und 45 Prozent in den Metropolen. Damit ist der Anteil der auf dem Land lebenden größer als im Landesdurchschnitt (16 Prozent).

Das Bildungsniveau der AKP-Wählerschaft liegt unter dem Landesdurchschnitt. Eine große Mehrheit der Wähler der Regierungspartei kommt aus bildungsfernen Familien: Nur zwei Prozent haben einen Vater mit Universitäts-Abschluss. Seit 2010 ist jedoch ein Anstieg des Bildungsniveaus unter den AKP-Anhängern zu verzeichnen – das entspricht dem generellen, landesweiten Trend.

Der niedrige Bildungsstand spiegelt sich auch im beruflichen Werdegang wider. Die Mehrheit der AKP-Wähler befindet sich in der unteren oder mittleren Einkommensskala. Sie sind mit der allgemeinen Wirtschaftslage der Türkei zwar zufrieden, doch für ihre persönliche Lage erwarten sie in naher Zukunft schlechtere Zeiten. Wenn es um die persönliche finanzielle Lage geht, sind die Einschätzungen der AKP-Anhänger daher eher pessimistisch, doch immer noch positiver als im Landesdurchschnitt.

AKP-Wählerinnen tragen überdurchschnittlich oft Kopftuch

Die Anhänger der Regierungspartei sind konservativer als der Bevölkerungsdurchschnitt. 27 Prozent der türkischen Gesamtwählerschaft bezeichnet ihre Lebensart als „modern“, 45 Prozent als „traditionell-konservativ“ und 27 Prozent als „religiös“. Unter den AKP-Wählern betragen diese Werte 11 Prozent (modern), 46 Prozent (traditionell-konservativ) bzw. 43 Prozent (religiös). Auch der Anteil der Frauen, die ihren Kopf bedecken, ist unter den AKP-Wählern überdurchschnittlich hoch: Während 87 Prozent der AKP-Wählerinnen angeben, ihren Kopf auf irgendeine Weise zu bedecken, beträgt der Durchschnittswert unter allen türkischen Wählerinnen 62 Prozent. Aus den Angaben lässt sich ableiten, dass die AKP weiterhin die traditionell-konservative und religiöse Schicht unter den türkischen Wählern repräsentiert.

 

59 Prozent sehen Soziale Medien als Gefahr für die Gesellschaft

Nachrichten werden primär über das Fernsehen und einseitig über regierungsnahe Sender bezogen. 36 Prozent der AKP-Wähler nutzen das Internet nach eigener Aussage nie. Damit ist dieser Anteil höher als der Landesdurchschnitt (29 Prozent). Mehr als die Hälfte, nämlich 59 Prozent der AKP-Wähler, sehen die Sozialen Medien generell als eine Gefahr für die Gesellschaft. Ähnlich hatte sich Erdoğan in der Vergangenheit des Öfteren geäußert.     

Dass der Personenkult für AKP-Anhänger von besonderer Bedeutung ist, zeigt sich auch an den folgenden Zahlen: Für viele Anhänger (46 Prozent) ist Erdoğan der wichtigste Grund, die Partei zu wählen. Dieser Wert ist genau doppelt so hoch wie im Wählerdurchschnitt (23 Prozent).

Europäische Lebensstandards? Ja! EU-Breitritt? Nein!

Dauerkrise mit der EU, den EU-Mitgliedsstaaten und den USA, militärische Operationen in Syrien und im Irak, Isolierung innerhalb der NATO: Trotz dieser Bilanz bewerten 83 Prozent der AKP-Anhänger die Außenpolitik der Erdoğan-Regierung als erfolgreich. Unter der Gesamtwählerschaft fällt diese Bilanz mit 49 Prozent deutlich schlechter aus.

Die Unterstützung einer Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union hat über Parteigrenzen hinweg in den letzten Jahren stark abgenommen. Während im Dezember 2015 noch knapp die Hälfte der AKP-Anhänger der Ansicht war, ihr Land müsse unbedingt Mitglied der Union werden, betrug dieser Wert im August 2016 – also kurz nach dem vereitelten Putschversuch – nur noch 20 Prozent.

Ein oft wiederholtes Narrativ Erdoğans und seiner Regierung war, die Europäer hätten nach dem versuchten Staatsstreich nicht an der Seite der Türkei gestanden. Doch auch wenn eine EU-Mitgliedschaft der Türkei im Moment wenige Befürworter findet, wird der Lebensstandard in vielen europäischen Ländern von den Regierungsanhängern herbeigesehnt: Auf die Frage „Welchem Land sollte die Türkei ähneln?“ antworten 34 Prozent der Befragten, dass es kein derartiges Land gebe. Doch gleich darauf folgen 33 Prozent der Befragten, die Länder der EU als Antwort benennen.

Dreiviertel der Erdoğan-Anhänger begrüßen die Todesstrafe

Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 wirft auch zwei Jahre danach viele Fragen und Ungereimtheiten auf. Doch eine überwältigende Mehrheit von 92 Prozent der AKP-Wähler ist der Überzeugung, dass es sich um einen echten Staatsstreich gehandelt habe. Fünf Prozent glauben jedoch, dass Erdoğan und die Regierung diesen zu ihrem eigenen Vorteil genutzt haben. Auch die Maßnahmen (massenhafte Suspendierung von Staatsbeamten, lange U-Haftdauer von Inhaftierten, Übernahme von Firmen durch staatliche Treuhänder usw.), die im Rahmen des Ausnahmezustandes ergriffen wurden, finden unter den AKP-Wählern breite Unterstützung (bis zu 90 Prozent). Nach dem gescheiterten Putschversuch kündigte Erdoğan immer wieder an, die Todesstrafe wiedereinführen zu wollen. Dreiviertel der AKP-Wähler würden dieses Vorhaben unterstützen.                                                                                   

Zensur seitens der Regierung? Kein Problem für viele AKP-Wähler

Nahezu die Hälfte, nämlich 44 Prozent der AKP-Wähler, glaubt nicht, dass die Pressefreiheit in ihrem Land unter politischem Druck stehe, 20 Prozent sind sogar gegensätzlicher Auffassung. Auf die gesamten Wähler übertragen, sieht die Bewertung der Pressefreiheit genau umgekehrt aus: Während 44 Prozent denken, dass die Politik Druck auf die Presse ausübe, sind 23 Prozent gegenteiliger Auffassung.

Eine Mehrheit der Anhänger der Regierungspartei hat kein Problem damit, wenn die Regierung hin und wieder den Zugang zum Internet oder sozialen Medien einschränkt. Nur 20 Prozent sind mit derartigen Maßnahmen unzufrieden; die restlichen 80 Prozent sehen das entweder unkritisch (51 Prozent) oder begrüßen es sogar (29 Prozent). Übertragen auf den Landesdurchschnitt sind 47 Prozent der Gesamtwählerschaft, und damit mehr als das Doppelte der AKP-Wähler, unzufrieden mit derartigen Maßnahmen.

Die soziologische Analyse der AKP-Wählerschaft bestätigt viele gängige (Vor-)Urteile, zeigt aber auch, wie tief die Partei in weiten Teilen der türkischen Gesellschaft verankert ist. Wie immer die Türkei am 25. Juni aussehen mag: An diesem wichtigen und zahlenmäßig starken Segment der türkischen Bevölkerung wird man auch in der Zukunft nicht „vorbeiregieren“ können.

Aret Demirci ist Programmkoodrdinator der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Istanbul.